30 Jahre „Elf99“: Flippige Sendung für die Jugend im Sozialismus

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Bild: Destina - Fotolia.com
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Draußen in der DDR rumort es im Sommer und Herbst 1989. Drinnen in den Fernsehstudios in Berlin-Adlershof entsteht eine neue knallige Sendung, die junge Leute ansprechen und wieder für die DDR gewinnen soll.

Das TV-Studio ist knallbunt, die Moderatoren tragen schrille 80-er-Jahre-Outfits. Auf der Bühne stehen Falco, Take That oder Udo Lindenberg. Breakdancer zeigen ihre Moves – und die jungen Moderatoren-Paare der Sendung „Elf99“ tanzen Lambada oder Mambo. Sogar West-Spielfilme wie „Dirty Dancing“ werden gezeigt. Die flippige Sendung ist nicht im Westfernsehen zu sehen, sondern wird im sozialistischen Ost-Berlin produziert. Vor 30 Jahren, am 1. September 1989, begann mit „Elf99“ ein kurzes, aber besonderes Stück DDR-Fernsehgeschichte.

Draußen im Land rumort es mächtig im Sommer und Herbst 1989: Massenhaft verlassen die DDR-Bürger ihre Heimat, um Mangelwirtschaft, Unfreiheit und Wahlfälschungen zu entkommen. Viele entfliehen dem „real existierenden Sozialismus“ über Ungarn und Österreich. Auch die Zahl der Ausreiseanträge steigt sprunghaft. Vor allem junge Leute sehen in der DDR für sich keine Zukunft mehr.

Rund einen Monat vor dem 40. Geburtstag der DDR und wenige Wochen vor dem Sturz von Erich Honecker beginnt die Ära der neuen Jugendsendung. Sie bietet je zwei Stunden lang Reportagen, Musikvideos, Sport und Diskussionen. Der Name „Elf99“ steht für die Postleitzahl von Berlin-Adlershof, dort sitzt das DDR-Fernsehen.

„Es sollte eine moderne Jugendsendung sein, die sich ein bisschen auch an den West-Jugendsendungen orientieren sollte“, erzählt die damals 20 Jahre alte Moderatorin Victoria Herrmann. „Wir konnten das Studio schräg ausgestalten, wir sahen schräger in den Klamotten aus. Die haben damals gesagt, wir machen was ganz Schrilles, Buntes, um das Augenmerk mehr auf das Unterhaltungsprogramm im Fernsehen zu lenken – und weg von Tschechien und Ungarn und den Botschaften“, so die gebürtige Berlinerin, die heute das MDR-Wissensmagazin „LexiTV“ moderiert.

Die Bundeszentrale für politische Bildung resümiert mit Blick auf „Elf99“ und die Zeit vor dem Mauerfall: „Das intendierte Ziel, damit die Jugendlichen stärker für die DDR zu begeistern, wurde jedoch nicht erreicht, hier war auch das DDR-Fernsehen überfordert.“

Victoria Herrmann sagt über sich und die anderen Moderatoren: „Wir waren selber damals sehr jung, wild und verrückt.“ Das Produktionsteam habe die besten Kameras und die beste Schnitt-Technik gehabt. „Und wir haben wirklich kein Blatt mehr vor den Mund genommen“, so Herrmann. „Wir hatten Redakteure, die sich gegen die Obrigkeit aufgebäumt haben.“ Ein Beispiel: Eigentlich hätten die Moderatoren FDJ-Blusen tragen sollen – machten sie aber nicht. „Wir haben Grenzen ausgelotet, wurden immer mutiger und frecher.“ Allerdings: Der Nachrichtenblock ähnelte zunächst sehr dem der linientreuen „Aktuellen Kamera“.

Im Oktober 1989 sind Politbüromitglieder im Studio – die Fragen an sie haben es in sich. Gewerkschaftschef Harry Tisch muss sich vor dem Hintergrund von Massenflucht und und Massen-Protesten sagen lassen: „Ein einfacher Blick in die westlichen Medien hätte doch ausgereicht, um die Situation einzuschätzen.“ Die Antwort des Funktionärs: „Die westlichen Medien waren, sind und werden für mich nicht der Maßstab sein für die Einschätzung einer bestimmten Situation“.

Im November 1989 können die DDR-Bürger bei „Elf99“ dann sehen, wo und wie Honecker und Co. lebten – in einer Reportage über Wandlitz. Titel: „Einzug in das Paradies“. Die Zuschauer sehen in der bis dahin streng abgeschotteten Siedlung der DDR-Machthaber volle Regale – unter anderem mit Bananen, Apfelsinen und Ananas. Für den Enthüllungsbericht – ein Novum im DDR-Fernsehen – gibt es später einen Bambi.

Am 1. Januar 1992 sind vier Jahrzehnte Ostfernsehen Geschichte. Fast alles in Adlershof wird „abgewickelt“, nur einige wenige Sendungen überleben. Die beiden Nachfolgesender im Osten Deutschlands, MDR und ORB, übernehmen die Jugendsendung nicht. Unter demselben Titel, aber mit anderer Machart, deutlich kleinerem Moderatoren-Team und nur noch 45 Minuten Sendezeit ist die Sendung zunächst bei RTL zu sehen. Das Magazin wechselt 1994 zum jungen Sender Vox – und fällt dort schließlich einer Senderkrise zum Opfer. [Sophia-Caroline Kosel, dpa (bey)]

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