Der „Tatort“-Trend – TV-Phänomen des Jahres?

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Bild: Destina - Fotolia.com
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Die letzte „Tatort“-Erstausstrahlung des Jahres läuft am Sonntag in der ARD. Eine gute Gelegenheit, zu ermitteln, was sich gerade bei Deutschlands beliebtester Krimireihe tut. Und das ist eine Menge.

Tumor ist, wenn man trotzdem ermittelt? Im Sonntagskrimi zumindest geht so einiges, wie vor zwei Wochen der schwer kranke LKA-Ermittler Felix Murot (gespielt von Ulrich Tukur) im ARD-„Tatort“ bewiesen hat. Die „Bild“-Zeitung adelte die Folge „Das Dorf“ mit der Überschrift: „Der irrste „Tatort“ aller Zeiten“. Wie auch immer: Im Jahr 2011 gab es auf jeden Fall viel Bewegung rund um die langlebige Krimireihe. Für 2012 sind neue „Tatort“-Teams in Hamburg (Til Schweiger), Dortmund (Jörg Hartmann, Anna Schudt, Aylin Tezel) sowie Saarbrücken (Devid Striesow/Elisabeth Brück) angekündigt. 2011 gab es bereits Neustarts in Frankfurt am Main (Joachim Król/Nina Kunzendorf) und Luzern (Stefan Gubser).
 
Und es gab Superlative: Der WDR-„Tatort“ aus Münster am 1. Mai – „Herrenabend“ mit Axel Prahl (als Frank Thiel) und Jan Josef Liefers (Karl-Friedrich Boerne) – war der meistgesehene seit 18 Jahren. Insgesamt werden am Ende des Jahres 36 neue Folgen gelaufen sein – von den deutschen ARD-Anstalten, Österreichs Sender ORF und jetzt auch wieder vom Schweizer Fernsehen. Die Zuschauerzahl blieb auf dem hohen Niveau des Vorjahres: Bis vergangenen Sonntag (11. Dezember) schauten im Schnitt jeweils 8,5 Millionen Menschen zu, vor fünf Jahren (2007) waren es durchschnittlich nur 7,3 Millionen. 17 Einsatzorte gibt es zurzeit. Mit dem Start in Dortmund werden es bald 18 sein.
 
Tatort – Die neue Spießigkeit?
 
Das gefällt nicht allen: „Eines geht mir aber wirklich auf die Nüsse: diese „Tatort“-Sache“, schimpfte neulich die TV-Moderatorin und Autorin Sarah Kuttner (32) im Magazin „Der Spiegel“ (48/2011). „Das ist das neue Ding, was wir coolen Leute seit einiger Zeit schauen müssen. Eine Art neue Spießigkeit. Ich finde diese Krimis furchtbar altbacken und öde. Nichts ist schlimmer als der Satz: Der beste „Tatort“ ist der Münsteraner.“

Auch in der neuen Tele-5-Satiresendung „Walulis sieht fern“ nahmen sich die Macher gleich zu Beginn „den typischen Tatort“ in 123 Sekunden vor. Mit allen Klischees: verkrampfte Sozialkritik, die üblichen Verdächtigen („Verbindungen in die Politik, skrupellos, geldgeil“) und natürlich die Autofahrten vorbei an Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Stadt, damit man auf jeden Fall sieht, wo der Krimi spielt. Nicht zu vergessen natürlich: stereotype Ermittler, die charakterlich möglichst gegensätzlich sind, damit in jeder Folge Streit, aber auch Spaß aufkommt.
 
Die Stärken der einzelnen „Tatorte“ weiter ausbauen
 
„Der „Tatort“ hat ein wenig die Funktion des sozialkritischen Fernsehspiels übernommen“, sagt der Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos, Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) Konrad Wolf in Potsdam (Babelsberg), „seit Fernsehfilme und TV-Movies sich eher familiären Mittelschichtproblemen wie Patchwork-Familie, dem Dasein als Ärztin oder Pferdebesitzerin und sonstigen Problemen widmen, die sich gut bezahlte Mittelschichtautoren so ausdenken, um ihrem eigenen langweiligen Leben ein wenig Nervenkitzel abzugewinnen“.
 
Fernsehprofessor Mikos, der auch Direktor des Erich Pommer Instituts ist, fasst zusammen: „Wenn es einen Trend gibt, dann den, die Stärken der einzelnen „Tatorte“ weiter auszubauen. München und Köln nehmen sich aktueller Themen an. Klaus Borowski, also Axel Milberg, in Kiel hat mit Sarah Brandt, also Sibel Kekilli, eine gute Partnerin bekommen. Ulrich Tukur macht auf Kunst, Nina Kunzendorf auf sexy und die Münsteraner karikieren sich inzwischen selbst.“
 
Er selbst habe keinen Lieblings-„Tatort“, sagt Mikos. Doch manche Teams und Ermittler verlieren nach seiner Meinung ein wenig ihren Reiz (München, Köln, Hannover, Bremen), andere findet er dagegen immer reizvoller (Frankfurt, Kiel). Der TV-Experte meint auch ziemlich zweideutig: „Das letzte, was dem „Tatort“ noch gefehlt hat, war Til Schweiger als Kommissar. Aber das Problem wurde ja nun vom NDR gelöst.“

Zu viel Privates und zu wenige Einblicke in die Polizeiarbeit
 
Der Betreiber der Fan-Webseite „tatort-fundus.de“, Francois Werner, glaubt: „Ermittler-Darsteller wie der Kinostar Til Schweiger sprechen junge Zuschauer sicherlich mehr an als – bessere – Schauspieler aus der zweiten Reihe, wie es eher im letzten Jahrzehnt gemacht wurde.“ Der 38-Jährige meint aber auch: „Mir ist langsam die jährliche Schlagzahl zu hoch. Es sind inzwischen zu viele Ermittler. Einige kommen selten zum Einsatz und geraten fast in Vergessenheit.“ So wie Tukur in Hessen soll zum Beispiel auch Schweiger in Hamburg nur einmal im Jahr ermitteln.
 
Gefallen findet Werner, der nach wie vor ein weibliches Doppel-Team vermisst sowie „endlich mal Jürgen Vogel als Ermittlerfigur“, an einem aktuellen „Tatort“-Trend, wieder mehr Polizeiarbeit zu zeigen statt Privatleben auszuwalzen. „Köln – furchtbar viel Privatgedöns“, kommentiert er zum Beispiel die WDR-Filme mit den Schauspielern Dietmar Bär (als Freddy Schenk) und Klaus J. Behrendt (Max Ballauf). Die 2011 beschlossenen „Tatorte“ Dortmund und Hamburg haben zumindest versprochen, mehr Polizeitechniken zu zeigen; der neue Frankfurter „Tatort“ hat es in seinen zwei Ausgaben seit Mai bereits gemacht.
 
Fazit des Fans: „2011 hat mir der Mix an unterschiedlichen Mach-Arten gut gefallen. Der Hessische Rundfunk ist mit Abstand die Nummer 1 unter den „Tatort“-Sendern derzeit – sowohl bei Tukur als auch bei Król und Kunzendorf. Ausgefallen und doch sehr unterhaltsam. Kein „Mainstream“, obwohl sie vom Main kommen.“
 
Ebenfalls „wunderbar, weil ungewöhnlich“ findet er Mehmet Kurtulus, der den verdeckten LKA-Ermittler Cenk Batu gibt – noch. Doch bei dem ist bald Schluss. Nächstes Jahr muss die Hamburger Figur sterben und Schweiger tritt an (DIGITALFERNSEHEN.de berichtete). Die letzte „Tatort“-Erstausstrahlung des Jahres 2011 an diesem Sonntag („Der Weg ins Paradies“, ARD, 20.15 Uhr) ist zugleich der vorletzte überhaupt mit diesem Ermittler. [Gregor Tholl]

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