Der neue deutsche Film?

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Vielfalt im einheimischen Kino

Gibt es ihn eigentlich noch, diesen ernüchternden, unglaubwürdigen, theatralischen Unterton, der irgendwie in allen deutschen Filmen enthalten scheint? Gewiss ist er noch spürbar, doch mit dem großartigen Repertoire an vielfältigen Film-Ideen und den blendend erzählten Geschichten des aktuellen einheimischen Kinos entwickelt sich gerade ein ganz neues Œuvre neuer deutscher Filmkunst.

„Cloud Atlas“

Das berauschende filmische Kaleidoskop von Tom Tykwer und den Wachowskis springt munter zwischen den Zeiten und den mannigfaltigen Figuren seiner kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten hin und her. Ob man am Ende eher verwirrt oder doch bereichert ist, hängt stärker als bei anderen Produktionen von jedem einzelnen Betrachter ab. Allein der Versuch, die insgesamt sechs Handlungsstränge des fast dreistündigen Films in stark vereinfachter Form wiederzugeben, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen: Es geht um gefährliche See-Abenteuer im Amerika des 19. Jahrhunderts, um eine unmögliche Liebe zwischen zwei britischen Gentlemen in den 1930er Jahren, um die Geschichte eines geradezu magischen Musikstfcks, eine gefährliche politische Verschwörung in den USA der Post-Vietnam-Ära und eine totalitäre Zukunft, in der die Rechte des Einzelnen in höchste Gefahr geraten.
 
Das Drehbuch basiert auf dem hochgelobten dritten Roman des Briten David Mitchell, der im Jahre 2004 mit „Cloud Atlas“ (dt. „Der Wolkenatlas“) ein verblüffend vielschichtiges Buch veröffentlichte. Der Clou: Jede der in sich geschlossenen Kurzgeschichten wird mittendrin von der folgenden Episode abgelöst, um später, im zweiten Teil des Kreislaufs, bis zu ihrem jeweiligen Ende erzählt zu werden. Jede Story ist dabei über bestimmte Details (meist Figuren, manchmal aber auch Orte, Gegenstände und Ähnliches) mit ihrem Vorläufer verbunden, sodass sich ein gigantisches Netzwerk entspinnt, in dem am Ende alles mit allem verbunden scheint. Die Verfilmung löst diese strenge Struktur allerdings völlig auf und entwirft mit den einzigartigen Mitteln des Kinos (Schnitt, Voice-over, Rückblende, Flash-Forward…) einen gänzlich neuen Blick auf das schillernde Kunstwerk, das „Cloud Atlas“ zweifelsohne ist.

Der größte deutsche Film aller Zeiten?

Dass „Cloud Atlas“ mit geschätzten 100 Millionen Dollar als teuerster deutscher Film der Kinogeschichte gehandelt wird, ist natürlich ein wenig Augenwischerei. Zwar wurden große Teile in den Babelsberger Filmstudios gedreht, und mit Tom Tykwer als Co-Regisseur steht das Aushängeschild des jungen deutschen Kinos an der Spitze des Projekts – am Ende ist das Ganze dann aber doch eine internationale Großproduktion, die so nur mit Mitteln aus vielen verschiedenen Geldquellen gestemmt werden konnte (natürlich unter anderem auch aus den Töpfen der deutschen Filmförderung.)
 
Tykwer tat sich für dieses Mammutprojekt mit Andy und Lana Wachowski zusammen. Falls Ihnen diese Kombination etwas spanisch vorkommt: Larry Wachowski lebt seine Transsexualität seit letztem Jahr öffentlich aus, daher auch die kleine Namensänderung. Gemeinsam konnten Sie einen fantastischen Cast gewinnen: Allen voran natürlich Tom Hanks und Halle Berry, die als zugkräftige Namen gehörig die Werbetrommel für den Film rührten. Hugo Weaving, Jim Sturgess, Ben Wishaw und Susan Sarandon sind weitere der vielen bekannten Gesichter, die das komplexe Figurenarsenal auf der Leinwand zum Leben erwecken.
 
Beinahe jeder Schauspieler verkörperte mehrere Rollen – bei den Zugpferden des Filmes sind es sage und schreibe sechs verschiedene Charaktere, die unterschiedlicher in Aussehen, Alter und Charakter kaum sein könnten. Durch große Anstrengungen im Bereich Maske, Make-up und Kostüme sind die Stars teilweise kaum noch zu erkennen: Ein verblüffendes Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers, das allerdings von Zeit zu Zeit etwas ins Lächerliche abzugleiten droht.

Überlänge? Nicht im Reich der Mitte!

In China ist der 172 Minuten lange Streifen übrigens in einer arg verstümmelten und radikal zensierten Version in den Kinos gestartet. Die staatliche Zensurbehörde ließ knapp 40 Minuten der über mehrere Jahrhunderte reichenden episodischen Geschichte unter den Schneidetisch fallen. Unter anderem wurden die leidenschaftlichen Liebesszenen des Films radikal geschnitten, während die teilweise recht expliziten Gewaltszenen jedoch unangetastet blieben.
 
Auch der Handlungsstrang um die gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung fand vor den strengen Augen der Filmprüfer keine Gnade – das Thema bleibt bedauerlicherweise weiterhin ein rotes Tuch für die chinesischen Zensoren. Das überwältigende Kaleidoskop, das sich für den aufgeschlossenen und aufmerksamen Filmfreund ergibt, kann in solch einer zurechtgestutzten Version verständlicherweise nicht mehr funktionieren.

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