„Und morgen die ganze Welt“: Schwieriger Antifa-Film wird der deutsche Oscar-Beitrag

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Nach seiner Weltpremiere beim Filmfestival Venedig wird „Und morgen die ganze Welt“ laut German Films jetzt Deutschlands Oscar-Kandidat für 2021. Kurz vor den erneuten Schließungen startet Julia von Heinz‘ aufwühlender Einblick in die linksextreme Szene in den Kinos.

Wut und Verzweiflung sprechen aus den ersten Bildern von Julia von Heinz‘ („Ich bin dann mal weg“) neuem Film. Eine junge Frau, Luisa, stapft unter einer Brücke hindurch, unter dem Arm ein Gewehr. Sie bleibt stehen und schleudert die Waffe weit von sich. Ein vertuschter Mord? Ein Überwinden der eigenen Gewalttriebe? Eine Friedensgeste? Erst spät kehrt der Film zu dieser Szene zurück, zeichnet den Weg nach, bis die Zwanzigjährige zur Waffe greift. Und damit noch nicht genug.

Eine Art Herzensprojekt ist dieser Stoff für Regisseurin Julia von Heinz. Seit sie Filme machen will, trägt sie laut eigener Aussage den Stoff mit sich herum. Von Heinz, die selbst früher bei der Antifaschistischen Aktion tätig war, erzählt in ihrem Film, wie Luisa, die Protagonistin, in linke Kreise gerät. Eigentlich studiert sie in Mannheim Jura, kommt aus gutbürgerlichem Hause. Über ihre frühere Schulfreundin Batte wird sie in das autonome P81-Gruppe aufgenommen. Zwischen Demonstrationen und Störaktionen wird Luisa jedoch bald mit gewalttätigen Tendenzen und den kontroversen Diskussionen innerhalb der Gruppe konfrontiert.

Qualitative Achterbahnfahrt

Es ist ein Auf und Ab, das uns Julia von Heinz da präsentiert. Im doppelten Sinne. Wie die Gefühlswelt von Hauptfigur Luisa von einem Extrem ins nächste schwankt, macht es einem auch der Film selbst nicht leicht, ein klares Urteil über ihn zu fällen. An dieser Stelle könnte man nun der Kritik ein Versagen vorwerfen, doch dafür ist dieses deutsche Drama in seiner Qualität, seiner erzählerischen Fülle zu schwankend, um es allein in die eine oder andere Richtung zu denken.

Würde man nun fragen, ob man die Extremismus-Studie sehen sollte, sie auf ihre Dringlichkeit untersuchen, dann würde das Urteil lauten: Ja, man sollte sich diesen Film ansehen, wenn man sich mit politischer Radikalisierung auseinandersetzen möchte, die in den letzten Jahren (nicht nur in Deutschland) vermehrt für allerhand einschneidende Ereignisse, Polarisierungen und um sich greifende apokalyptische Phantasien gesorgt hat. Anlass zu Jubelstürmen bietet der Film allerdings nur vereinzelt.

„Und morgen die ganze Welt“ hat Julia von Heinz ihren hochbrisanten Film genannt. Ein alarmierender Titel, Nazisprache, ebenso euphorisch wie brachial und furchteinflößend. Er führt zum Kern der Sache, markiert den Feind, den man bekämpfen will, und stellt zugleich die altbekannte Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Wie für eine liberale Gesellschaft kämpfen, wenn man sich zugleich bei den Waffen des visierten Feindes bedient und zur Gewalt greift? Wann ist es überhaupt erlaubt, selbst zu radikalen Maßnahmen zu greifen?

Julia von Heinz stellt die richtigen Fragen. Sie verteufelt weder noch ergreift sie für eine Seite Partei. Das obliegt dem Publikum und lässt sich gar nicht so leicht beantworten. So wenig, wie sich auch die portraitierte Antifa nicht als homogene oder leicht zu beurteilende Masse präsentiert. Vor allem muss man der Regisseurin Respekt zollen, sich an diesen Stoff so reflektiert herangewagt zu haben. Die Branche hat in den vergangenen Jahren immer wieder Filme über rechte Gewalt oder den Ausstieg daraus hervorgebracht. An die linke Szene hat man sich indes nur selten herangewagt. Ja, wahrscheinlich ist „Und morgen die ganze Welt“ im deutschen Kino sogar der erste Film, der dieses Milieu so intensiv beleuchtet.

Im TV besser aufgehoben?

Das hätte in der Theorie Potential für einen allerschlimmsten Problem- und Zeigefingerfilm. Der dann wahrscheinlich nur auf einen prominenten Sonntagabend-Sendeplatz im Ersten oder Zweiten wartet, während Sandra Maischberger anschließend bereits mit Wolfgang Bosbach und Jutta Ditfurth in den Talkshow-Startlöchern steht. Von einer solchen Schreckensvision ist Julia von Heinz‘ Film zum Glück ein ganzes Stück entfernt. Nun, ganz ohne vereinzeltes Phrasengedresche und Klischee-Aufnahmen kommt ihr Drama leider auch nicht aus. Visuell traut man sich hier sowieso nichts. Sozialrealistische Tristesse überall. Als ob man Angst hätte, ein solcher Stoff dürfe keine stilisierten Kinobilder hervorbringen, um Authentizität vorzugaukeln.

Aber immerhin: Julia von Heinz findet zwischendurch diese schwierigen, niederschmetternden Momente, die das Thema so spannend machen. Wenn Hauptdarstellerin Mala Emde fast zu Stein erstarrt, ihre Miene einfriert. Wenn ein Blick in ihre Augen ausreicht, um den Kampf in ihr zu verstehen, und die euphorische Stimmung unter den Aktivisten immer wieder schlagartig ins Gefährliche umkippt und man unweigerlich auf sich selbst und die Frage zurückgeworfen wird, ob man bereit wäre, in dieser und jener Situation ähnliche Grenzen zu überschreiten.

Große Hilflosigkeit

„Und morgen die ganze Welt“ scheitert dann aber genau in den Momenten, in denen er jene Ambivalenzen und zwiespältigen Charakterzüge zu erklären und in Worte zu fassen versucht. So ganz kann sich Julia von Heinz nicht zwischen teilnehmender Beobachtung und Innenschau entscheiden. Immer wieder häufen sich im Verlauf der Erzählung Szenen, in denen Konflikte unbedingt noch einmal auf häufig banalste Weise totgeredet werden, während der Film wie seine Hauptfigur Spielball seiner eigenen Ohmacht wird.

Generationenkonflikt, politische Milieustudie und Coming of Age – Geschichte nebst Lovestory rührt der Film durcheinander. Das Ergebnis ist mitunter so aufregend, komplex und fordernd, wie man es sich im Kino nur wünschen kann. An anderer Stelle wirkt es verloren, hilflos. Final bleibt nur eine Idee davon, wie solche Strukturen, wie sie im Film gezeigt werden, entstehen.

Würdiger Oscar-Kandidat?

Alles führt hier ins Chaotische. Oder wohlwollender formuliert: ins Unabgeschlossene. Wahrscheinlich muss man „Und morgen die ganze Welt“ als eine solche prozesshafte Annäherung begreifen, die vielleicht niemals gänzlich zu ihrer eigentlichen Erkenntnis durchdringen kann. Das muss sie auch nicht. Interessantes Kino zeichnet eine solche Offenheit häufig aus. Schade ist es trotzdem, dass der dauerhaft kreiselnde „Und morgen die ganze Welt“ seinem Publikum ein klares, gerne auch provokatives Statement verwehrt.

Ob das der Oscar-Academy schmecken wird, bei der der Film nun eingereicht wird, scheint fraglich. Trotz aller politischen Brisanz: Triste, minimalistische Aufnahmen, Diskussions-Kino, das mehr Fragen stellt als zu beantworten, das kommt bei den Oscars selten weit. „Systemsprenger“ lässt grüßen! Vergangenes Jahr hat es für diesen wirklich grandiosen, aber womöglich zu unbequemen und widerborstigen Film nicht einmal für eine Nominierung gereicht. „Und morgen die ganze Welt“ wird womöglich ein ähnliches Schicksal ereilen.

„Und morgen die ganze Welt“ läuft ab dem 29. Oktober in den deutschen Kinos. Ob sich der Film unter den finalen Oscar-Nominierungen befindet, entscheidet sich im Februar 2021.

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Bildquelle:

  • umdgw: Alamode Film

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