„La Grazia“ eröffnet die Biennale: Der letzte elegante Politiker?

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Szenenbild aus LA GRAZIA
Foto: Andrea Pirrello/ Venice International Film Festival

Paolo Sorrentino eröffnet mit „La Grazia“ die Filmfestspiele von Venedig und erzählt vom Abdanken eines Präsidenten. Der Streamingdienst Mubi wird den Film herausbringen.

In der Filmwelt von Paolo Sorrentino ist es finsterer und karger geworden. Betrachtet man die letzten beiden Filme des italienischen Regisseurs, den Netflix-Film „Die Hand Gottes“ und das Drama „Parthenope“, dann ging es dort um die Suche nach dem Schönen und Wundersamen. Das waren Werke, die nach dem Wesen des Menschlichen und einer Verzauberung der Welt suchten. Die überstilisierte und hochglänzende Werbefilmästhetik, die Sorrentino dabei immer wieder bemüht, bietet durchaus Anlass zur Kritik und sie ist auch in seinem neuen Film „La Grazia“ zu finden. Aber sie hat sich deutlich verwandelt, hält sich zurück, wird pointierter eingesetzt, nähert sich wieder dem Vorgehen einiger früherer Arbeiten. Sie scheut dieses Mal den ganz großen Kitsch und sie scheut ebenso das Märchenhafte, das Sorrentinos Filmen manchmal anhaftet.

Stattdessen hat der Regisseur die Tragödie eines alternden Politikers inszeniert, der in allzu profanen Gefängnissen der Macht feststeckt und nun versucht, wenigstens am Abend seines Lebens aus ihnen auszubrechen. Toni Servillo, eine italienische Schauspiel-Ikone kann man sagen, verkörpert diesen Politiker mit ernster Standhaftigkeit, aber auch mit leeren bis melancholischen Blicken. Mariano De Santis, so heißt er, ist der italienische Präsident und befindet sich am Ende seiner Amtszeit. Vielmehr: Das Ende kann kaum schnell genug kommen.

„La Grazia“ zeigt einen tristen Politik-Betrieb

De Santis bemüht sich darum, schon wenige Wochen vor dem offiziellen Abgang sein Amt niederzulegen. Er ist der Rituale überdrüssig. Ein Briefing hier, ein Briefing dort. Dann will eine Journalistin der „Vogue“ ein Interview über den Modegeschmack des Präsidenten führen. Dazwischen ein offizieller Empfang. Das portugiesische Staatsoberhaupt fährt vor. Alt sieht der Mann aus, dem Tode nahe. Und De Santis muss sich bei seinem Vertrauten sofort und heimlich vergewissern, ob man ihm das Alter auf ähnlich erschreckende Weise ansieht. Und dann fängt auch noch ein Regenguss an, als würde sich die Natur auskotzen und die ganze Tristesse zum Vorschein bringen, die sich in das Schauspiel der Mächtigen geschlichen hat. Der Staatsbesuch schleppt sich also taumelnd den roten Teppich entlang, der immer länger wird, bis der Auftritt zur Farce und Slapstick-Einlage in Zeitlupe verkommt.

Die Kamera ist derweil vor allem interessiert, die Einsamkeit und Verlorenheit ihres Protagonisten zu visualisieren. Sorrentino und seine Kamerafrau Daria D’Antonio, die schon die letzten Werke des Regisseurs bebilderte, zeigen Toni Servillo immer wieder in öden, weiten Aufnahmen und Totalen. Räume werden lebensfeindlich, überlebensgroß und sie verschlingen den Präsidenten mit schaurigen Schattenspielen. „La Grazia“ meistert dabei einige beeindruckende Bilder! Dann etwa, wenn der Präsident im Theater von der Masse des Publikums begafft und beklatscht wird, ehe sich der Zuschauerraum mit Beginn der Vorstellung in ein schwarzes Loch verwandelt.

Szenenbild La Grazia
Foto: Andrea Pirrello/ Venice International Film Festival

Gescheitertes All-Gespräch

„La Grazia“ rührt daneben ganz unvermittelt. In einer der stärksten Szenen wird der italienische Präsident zur Live-Schalte ins All bestellt. Doch die Verbindung ist gestört. Der Astronaut schwebt auf einem Fernsehbildschirm und plötzlich weint er. Dann lächelt er und eine Träne schwebt schwerelos durch die Luft, nach der De Santiano zu greifen beginnt, ehe er an die Barriere und pixelige Oberfläche des Apparats stößt.

Am Mittwochabend eröffnet „La Grazia“ nun die 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Alberto Barbera, der künstlerische Direktor, hat das Drama an den Anfang des ältesten Filmfestivals der Welt gesetzt. Und man kommt gar nicht umhin, das auch als politisches Statement zu diskutieren. Nur: in welche Richtung? Was soll das denn nun sein? Geht es hier nur um Weltschmerz und Politikverdrossenheit? Wird hier einfach ein Blick durchs Schlüsselloch verkauft? Ja, schon. Das gehört zum Konzept des Films.

Politiker ganz privat?

Man kann lange Zeit skeptisch sein, wenn der Film Mitgefühl für den goldenen Käfig der Macht provozieren will, während er ihn abseits einiger Überlegungen zur Begnadigung von Verbrechern oder zur Sterbehilfe eigentlich von konkreteren politischen Diskursen befreit. Als Politiker bleibt dieser Präsident weitgehend diffus. Eher konservativ und extrem bedacht scheint er zu sein. Im Grunde wirkt hier aber alles austauschbar. Auf beinahe gefährliche Weise! Stellt man sich vor, man hätte einen solchen Film über die Bürden des Alters und Amtes über Donald Trump beispielsweise gedreht, würde man ihn wohl schnell zum Teufel jagen. Aus guten Gründen!

Paolo Sorrentino verpasst hin und wieder, seinem mäandernden Charakterporträt eine spürbare Dringlichkeit zu verpassen, aber ihm gelingt dennoch ein interessanter doppelter Boden. Denn es geht in „La Grazia“ eben weniger um zeitgeistige Politdiskurse und es geht weniger um das Drama des alten Herrn, der permanent seiner Ehefrau nachtrauert und über deren Seitensprung grübelt. Hier geht es um eine ganz grundlegende Haltung und es geht um Gesten und Inszenierungen. Etwa um die Diskretion, das Verschlossene als Qualität. Auch um das nach außen hin Erstarrte, das bei anderen Persönlichkeiten Anlass zur Kritik gibt, aber zum Prinzip des öffentlichen Auftretens erkoren wurde.

Toni Servillo als Präsident in La Grazia
Foto: Andrea Pirrello/ Venice International Film Festival

Paolo Sorrentino erzählt von der politischen Fassade

Erst spät im Film wird Mariano De Santis einer fremden Instanz jenseits des alltäglichen Umfelds Kummer und Sehnsüchte offenbaren. Und er wird kurz das Fenster öffnen, die lärmende Öffentlichkeit nach innen lassen. Aber nur, um die Zigarette auf der Fensterbank auszudrücken. Dann wird das Fenster wieder verschlossen. Das Geheimnis wird gesichtslos im Telefongespräch geteilt, nicht auf großer Bühne, in aller Intimität und Diskretion, insoweit man bei einem Interview von derartigen Kategorien überhaupt sprechen kann.

Die Fassade bleibt wichtig, auch wenn sie bricht. Damit meistert auch Sorrentinos Inszenierung eine erstaunliche Spannung in ihrer Introspektion, die nie voyeuristisch oder banalisierend wird oder die tatsächliche Privatsphäre und Intimität ausschlachtet. Sorrentinos Protagonist bleibt im wahrsten Sinne angezogen, offen in dem, was ihn umtreibt und dennoch gerüstet im perfekt sitzenden Anzug. Wir waren nicht clever. Wir waren elegant, sagt der Politiker bei seinem Abgang. Später wirft man ihn im Grübeln über die Vergangenheit eine zu große Wertschätzung der Wahrheit vor.

„La Grazia“ ist ein düsterer Auftakt für die Biennale

Das private Drama diesen abdankenden Herrn wird spätestens dort zum Abstraktum. Toni Servillo verkörpert einen Politiker, der schwer zu greifen ist, der larmoyant anmutet, der einem auch nicht sympathisch sein muss. Und doch ertappt man sich am Ende dieses Films bei der Idee, dass hier vielleicht tatsächlich der letzte große, elegante, gefasste Politiker die Bühne verlässt. Nach ihm kommen womöglich die Hitzköpfe der Welt, die man überall finden kann, die Impulsiven, die Populisten. Fiktion und Realität kollidieren.

In einer Zeit, in der über Politik tatsächlich oft nur noch mit Maßstäben der Befindlichkeit gestritten wird oder darüber, welcher Politiker gerade wie viel Emotion zur Schau gestellt hat oder nicht; für diese Zeit wirkt Sorrentinos Präsident wie eine höchst ambivalente und bewusst altmodische Gestalt. Ihr tragischer Zwiespalt zwischen dem Öffentlichen und Privaten wird zu einem Prozess des Aus-der-Zeit-Fallens, voller Schmerz und Gram über die Trostlosigkeit der Gegenwart. Oder ist genau das vielmehr das große Problem unserer Gegenwart? Dieses ewige Zaudern, Vertagen, diese verschlossene, egozentrische Selbstbespiegelung? Ein erstaunlich schwermütiger, nachdenklicher Auftakt für die Film-Biennale in Venedig! In den kommenden Tagen hofiert sie Regie-Größen wie Guillermo del Toro, Kathryn Bigelow, Noah Baumbach, Werner Herzog und Yorgos Lanthimos.

„La Grazia“ feiert seine Weltpremiere im Rahmen der 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Der Streamingdienst Mubi hat sich für Deutschland die Rechte gesichert und wird den Film in die Kinos und später online herausbringen. Ein konkretes Datum dafür ist noch nicht bekannt.

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