
Ab sofort läuft die Neuverfilmung von Michael Endes „Momo“ in den Kinos, u. a. mit Martin Freeman („Der Hobbit“) in einer der Hauptrollen. Ist der Versuch einer zeitgenössischen Modernisierung dieser zeitlosen Geschichte über 50 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung auch geglückt?
Michael Endes Roman „Momo“ oder auch „Die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“ wurde erstmals 1973 veröffentlicht. So einige dürften sich noch an die deutsch-italienische 1986er Verfilmung erinnern, in der u. a. Mario Adorf und Armin Mueller-Stahl prominente Rollen übernahmen. Aber seitdem sind auch schon wieder knappe vier Jahrzehnte ins Land gegangen. Und wo wir doch aktuell in einer Ära leben, in der permanenter Zeitdruck und die Beschleunigung des alltäglichen Lebens fraglos zugenommen haben und stetig weiter zunehmen, scheint das Erscheinen eines neuen „Momo“-Kinofilms genau jetzt sehr passend zu sein.
Ein außergewöhnliches Mädchen

Obwohl der deutsche Regisseur und Drehbuchautor Christian Ditter in seinem neuen „Momo“-Film das Buchoriginal an so einigen Stellen abgeändert hat, bleiben die Grundfesten der Geschichte unangetastet. In einer namenlosen italienischen Stadt taucht eines Tages die kleine Momo (Alexa Goodall) auf und lebt fortan im innerstädtischen Amphiteather. Das außergewöhnliche Waisenkind erwirbt sich schnell die Freundschaft der halben Stadt, denn sie leiht jedem Einzelnen auf eine unnachahmliche Weise ihr Ohr, hört mit einer Geduld und Offenheit zu, wie es sonst niemand versteht. Das macht sie für alle unentbehrlich.
Momos beste Freunde sind der alte Straßenkehrer Beppo (Kim Bodnia) und der junge Fremdenführer und Pizza-Lieferant Gino (Araloyin Oshunremi). Trotz äußerst bescheidener Lebensverhältnisse ist Momo in dieser liebevollen Gemeinschaft glücklich … bis die sogenannten „Grauen“ die Bühne betreten, einen riesigen Konzern aus dem Boden stampfen und den Menschen erfolgreich einreden, sie würden ihre Zeit verschwenden. Beinahe von einem Tag auf den anderen sind nahezu die gesamten Erwachsenen der Stadt dem Wahn verfallen, Zeit sparen und jede einzelne Minute effizient und produktiv nutzen zu müssen. Keiner hat mehr Zeit für seine Liebsten oder für die schönen Dinge des Lebens.

Einzig Momo scheint immun gegenüber dieser groß angelegten Manipulation zu sein. Und genau deswegen haben es die Zeitdiebe nun auf sie abgesehen. Mithilfe der magischen Schildkröte Kassiopeia gelangt Momo glücklicherweise noch rechtzeitig zu Meister Hora (Martin Freeman) ins Nirgendhaus, wo dieser im Stillen all die Zeit verwaltet, die jedem einzelnen Menschen zur Verfügung steht. Am Ende kann nur noch Momo mit Meister Horas und Kassiopeias Hilfe die „Grauen“ aufhalten.
Ein Großstadt-Märchen
Zu behaupten, der neue „Momo“-Streifen sei eine misslungene Verfilmung, wäre definitiv ungerecht. Der Geist des Originals und die Liebe zu Michael Endes Roman sind hier ohne Frage zu spüren. Ebenso weiß die filmische Arbeit an sich sehr zu gefallen. Die effektvolle audiovisuelle Inszenierung vermittelt einen wohligen Charme sowie eine düstere Atmosphäre, wenn es nötig ist. Die Gratwanderung einer märchenhaften Fantastik, die sich mit einem modernen Großstadt-Setting verknüpft, gelingt hervorragend.

All die vielen kreativ gestalteten Filmbilder und Szenenerien passen erstaunlich gut zu ebenjenen imaginären Welten, die sich einem zuvor schon beim Lesen des Buches vor dem inneren Auge ausgebreitet haben könnten … und das trotz eines nicht unwesentlichen Einsatzes von CGI-Technik, welcher glücklicherweise nicht zu sehr als Fremdkörper hervor tritt. Die Sets und Designs treffen damit wunderbar den Nerv und den Kern von „Momo“. Nichtsdestotrotz gibt es besagte Änderungen der Vorlage, welche sich durchaus skeptisch beäugen lassen. Und einen letztlich sogar fundamentalen Fehler scheint diese Neuverfilmung überdies noch zu begehen.
Die grauen Damen und Herren
Was wurde also geändert? Aus dem erwachsenen Gigi des Romans wurde im Film beispielsweise der Teenager Gino, der noch bei seiner Mutter und seinen zwei kleinen Geschwistern lebt. Und die Zeitdiebe kontrollieren die Menschen nun mittels metallenen Armbändern, welche über ein hellweißes Licht das erfolgreiche Zeitsparen honorieren und über ein penetrant rotes Licht die unerwünschte Zeitverschwendung anprangern. All das und einige ähnliche Beispiele sind durchaus nachvollziehbare Anpassungen, um die Geschehnisse des Buches filmisch zu verdichten und zu visualisieren.

Besonders augenfällig ist allerdings, wie sich die personelle Darstellung der Zeitdiebe gewandelt hat. Wurden diese im Buch noch als die „Grauen Herren“ bezeichnet, haben sie nun im Film auch etliche „Graue Damen“ in den eigenen Reihen. Überdies unterscheiden sich diese „Grauen“ generell optisch sehr stark in ihrem Aussehen und in ihrer Statur voneinander und haben teils sogar individuelle Namen wie der Anführer Richter (Claes Bang) oder die eifrige Rekrutiererin Jackie (Laura Haddock).
Diese vordergründig neue Diversifizierung und Individualiserung will aber vor allem deshalb nicht recht einleuchten, weil die „Grauen Herren“ in Michael Endes Erzählung ja gerade dadurch charakterisiert werden, dass sie alle so bezeichnend uniform und gesichtslos sind. Einer gleicht dem anderen, als wären sie eineiige Zwillinge. All die unscheinbaren Anzugklone lassen sich im Buch quasi gar nicht voneinander unterscheiden, weswegen sie im Stadtbild niemandem auffallen und nach ihrem Erscheinen fast sofort wieder vergessen werden. Die Folge davon ist, dass die Menschen dann denken, sie wären von ganz alleine auf die Idee gekommen, Zeit sparen zu müssen: Genau das macht ja gerade den strategisch so perfiden Erfolg dieser Maskerade aus.

Auf eine so plakative Weise mit Michael Endes ursprünglicher Beschreibung zu brechen, wie der Film es im Falle der Zeitdiebe macht, ist ziemlich fragwürdig und lässt sich argumentativ nur unzureichend wieder zurecht biegen … was allerdings nicht die gelungenen Schauspielleistungen eines Claes Bang und vor allem einer Laura Haddock schmälern soll, die hier gekonnt abliefern.
Warum so hastig?
Trotz all der berechtigten Skepsis, mit der man solchen Verfremdungen begegnen kann, hindert das den Filmspaß bisher nicht über die Maßen. Der größte Fehler dieser neuen „Momo“-Adaption“ ist dagegen ihre gehetzte Erzählweise, was angesichts der Botschaft, die in Michael Endes Geschichte steckt, mehr als paradox anmutet. Momo ist ja gerade deshalb ein so besonderer Mensch und so wichtig für alle anderen, weil sie sich genau die Zeit für jeden und für alles nimmt, die nunmal eben nötig ist … Sie hetzt nicht, sondern ist unerschöpflich in ihrer Geduld … so kann sie die Musik der Zeit hören.

Warum nur will dann Regisseur und Drebuchautor Ditters alle wichtigen Ereignisse des Buches in lediglich 90 Filmminuten hinein drängen. Um ja keine Überlänge zu riskieren? Hätte er sich nicht einfach 15 oder 20 Minuten mehr Zeit für alles nehmen können? Genau das wäre doch so essentiell für diese Geschichte! Der 1986er „Momo“-Film dauert immerhin mehr als 100 Minuten und selbst hier wäre ein wenig mehr Laufzeit schön gewesen.
Ditters Fokus liegt vor allem auf der zweiten Hälfte bzw. dem letzten Drittel des Romans, der sich um Momos Aufbegehren gegen die Zeitdiebe dreht. Das ist aus dramaturgischer Sicht völlig verständlich und gestaltet sich zum Ende hin auch sehr packend. Aber wenigstens zehn Minuten mehr Raum zu Filmbeginn für die Exposition und die Einführung der Charaktere, um vor allem Momos besonderes Wesen noch einmal besser herauszustellen, hätten dem Ganzen gut getan.
So erleben wir als Zuschauer immer wieder die widersprüchliche Situation, dass uns hier der Wert von Entschleunigung nahe gebracht und uns gezeigt werden soll, wie wichtig es ist, sich für alles in Ruhe die nötige Zeit zu nehmen, nur um dann einmal mehr im Eiltempo durch den Plot gescheucht zu werden. In diesem Trubel präsentieren sich auch elementare Einsichten wie Beppos Straßenkehrer-Weisheiten (ein Schritt, ein Besenstrich, ein Atemzug) tragisch nebensächlich.
Trotzdem ein schöner Film

Unterm Strich ist diese neue „Momo“-Umsetzung dennoch ein hübsch inszenierter und fantasievoll gestalteter Film, der seine berührenden Momente hat und Michael Endes modernes Märchen-Flair stellenweise sogar mit einer angenehm düsteren Thriller-Spannung zu vereinen weiß. Momos Geschichte ist nach wie vor einzigartig und auch deshalb in dieser neuen Form sehenswert, da audiovisuell sowie vom szenischen und schauspielerischen Handwerk her die Vorlage insgesamt sehr gut getroffen wurde … Ein Director’s Cut wäre interessant, der den Film nochmal um einige aus der finalen Schnittfassung entfernte Szenen bereichern könnte.