„In die Sonne schauen“: Wie groß sind Deutschlands Oscar-Chancen wirklich?

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Alma in IN DIE SONNE SCHAUEN
Foto: Studio Zentral

Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“ ist ein außergewöhnlicher deutscher Oscar-Beitrag. Genau deshalb könnte der Film am Ende leer ausgehen.

Ob dieser Film in Hollywood ähnlich triumphieren wird, wie es „Im Westen nichts Neues“ gelang, erscheint doch eher fraglich. Es ist nicht so, als wäre „In die Sonne schauen“ ein schlechter Film. Ganz im Gegenteil! Es ist einer der herausragendsten Kinofilme des Jahres, der jüngst für Deutschland bei den Oscars eingereicht wurde. „In die Sonne schauen“ ist jedoch so herausfordernd und eigenwillig als formales Experiment aufgezogen, dass er es zwischen all den konventionellen Arthouse-Dramen und Blockbustern, die man sonst bei den Oscars finden kann, eher schwer haben dürfte. Ob sich überhaupt große Teile der Oscar-Academy ein zweieinhalb Stunden langes, fragmentarisch montiertes Drama über das Leid mehrerer Generationen junger Frauen in Deutschland komplett ansehen werden; man kann da skeptisch sein.

Andererseits ist es nicht so, als hätte Mascha Schilinski mit ihrem Film nicht international bereits für Aufsehen gesorgt. In Cannes erntete die Berliner Autorin und Regisseurin allerlei Kritiker-Lob. Am Ende gab es außerdem den Preis der Jury für „In die Sonne schauen“. Als Sensation wurde hierzulande bereits gefeiert, dass es seit „Toni Erdmann“ im Jahr 2016 überhaupt zum ersten Mal wieder eine deutsche Regisseurin in den Wettbewerb des prestigeträchtigen Festivals geschafft hat. Anfang Januar wird sich zeigen, ob Deutschlands Oscar-Kandidat tatsächlich für den wohl bedeutsamsten Preis der Filmbranche nominiert wird. Wünschenswert und verdient wäre es auf jeden Fall!

Angelika in 22 Bahnen
Foto: Studio Zentral

Darum geht es in „In die Sonne schauen“

Ganz gleich, welche Jurys oder Gremien diesen Film aber nun für preisverdächtig halten oder nicht: Im Kino sollte man ihn so oder so sehen. Und „In die Sonne schauen“ profitiert ganz besonders von diesem sonderbaren Raum, in dessen Dunkel man sich hier begibt, um einer Seance beizuwohnen. Mascha Schilinski blickt auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte als Reigen untoter Gespenster zurück. Vier junge Frauen stehen dabei im Mittelpunkt. Sie heißen Alma, Erika, Angelika, Nell und leben auf ein und demselben Vierseitenhof in der Altmark, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Im Kaiserreich, in den 1940ern, den 80ern in der DDR und schließlich in den 2020er-Jahren.

Gemeinsam haben diese Frauenfiguren, dass sie mit ganz existenziellen Ängsten zu kämpfen haben. Sie fürchten sich vor der Einsamkeit, vor der Ignoranz. Sie beginnen mitunter, ihre Sexualität und Begierde zu ergründen, werden dabei aber auch Zeuginnen patriarchaler Gewalt oder erfahren sie am eigenen Leib. Wiederholt geht es hier um strukturellen Missbrauch, der sich in Körper einschreibt und zwischen allen Epochen seine Spuren hinterlässt. Die Mägde werden zu Sklavinnen abgerichtet und müssen den Männern auch sexuell hörig sein. In der eigenen Familie kommt es zu Übergriffen. Erwachsene Frauen verstummen. Oder der Kummer bahnt sich in Form eines permanenten Würgens nach oben. Traumata früherer Generationen suchen die Gegenwart heim und dort zeigt sich auch der Knackpunkt im Konzept dieses Films.

Ein Experiment mit der Filmform

Mascha Schilinski erzählt die vier Lebenswege in einer gespenstischen Form, die alle Zeitebenen ineinanderfließen lässt. Die Toten und die Geister der anderen Epochen sind permanent mit anwesend: in Träumen, als Spukerscheinungen. Szenen werden in ihrer Chronologie zerteilt. Sie unterbrechen und ergänzen sich gegenseitig. Jeder Handlungsstrang kommuniziert mit dem anderen. Die Kamera wird zu einer getrübten Kristallkugel, die Verdrängtes in kurzen Schlaglichtern zum Erscheinen bringt. Dann verwandelt sie sich selbst in eine heimsuchende Präsenz, die die Figuren auf unheilvolle Weise im Raum wittern, ehe sie sich zu ihr und damit auch dem Kinopublikum umdrehen und die Blicke erwidern.

Einzelne Motive tauchen dabei immer wieder auf und ziehen sich durch die Jahrzehnte. Das umfasst vor allem auch den Hang zum Tod. Die Frauenfiguren von „In die Sonne schauen“ beschäftigen sich mit ihrem eigenen Sterben, mal ehrfürchtig, oft aber auch mit einer gewissen Sehnsucht, um ihrem beengenden Dasein zu entkommen. Wiederholt geschehen selbstverletzende Handlungen und Selbstmorde auf der Leinwand, wenngleich man zwischen Wachen und Träumen nicht immer unterscheiden kann.

Foto: Studio Zentral

Bilder und Stimmen der Toten

In letzter Konsequenz betrachtet „In die Sonne schauen“ damit auch die schaurigen Aspekte der eigenen Medialität. Das Anfertigen von Bildern wird in Schilinskis Film in enger Verbindung zur Endlichkeit gedacht. Im frühen 20. Jahrhundert geht man der Tradition der Totenfotografie nach. Verstorbene werden drapiert, um noch einmal ein letztes Familienbild zu kreieren. Die Toten werde ihrer Diskretion beraubt, um als Andenken auf der Kommode zu landen. Später wird das Mädchen Alma nachspielen, wie es sich wohl anfühlt, als Leiche auf einem solchen Foto zu enden. Sie und die anderen Frauenfiguren fragen sich teilweise, ob sie überhaupt noch am Leben sind, ob sie vielleicht wiedergeboren wurden oder längst zur unsichtbaren Entität geworden sind.

Der Film, der nicht weniger Leben und Tod miteinander vermischt, stößt dabei (wie die kleine Alma) an Grenzen des Wahrnehmbaren und Vermittelbaren. Den Bildern bleibt nur noch das unscharfe Rauschen. Und von einer dominierenden Geschichtsschreibung, die vor allem das Geschehen auf großer politischer Bühne betrachtet, bleibt hier ein radikal konzentrierter Gegenentwurf. Mascha Schilinski spürt in ihrem faszinierend verschachtelten Film all den Übersehenen und Vergessenen der Geschichte nach, lässt sie traumwandlerisch über die Leinwand spuken und gibt ihnen eine Stimme zurück, auch wenn diese Stimme längst aus dem Jenseits spricht. Der Blick in die Vergangenheit gleicht hier dem wiederholt im Film gezeigten Blick durch kleine Löcher und Öffnungen, der immer nur kleine Ausschnitte preisgibt, aber im Hintergrund umso schwerwiegendere Konstanten freilegt.

„In die Sonne schauen“ läuft seit dem 28. August 2025 im Verleih von Neue Visionen in den deutschen Kinos.

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4 Kommentare im Forum
  1. Da dürftest Du daneben liegen. Habe eben einen Ausschnitt gesehen. Ich werde den mir auf jedenfall anschauen. Selten das solche Filme die maximal mögliche Bewertung bekommen.
  2. Steht der Film mal auf der Oscar-Nominierungsliste (die Verkündung soll am 22.01.2026 stattfinden), dann ist es schon ein kleiner Schritt Richtung Oscar. Auch wenn der dann keinen Oscar bekäme, ist eine Nominierung auch schon was wert.
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