Berlinale revisited: Die Preisträger auf Blu-ray

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Berlinale revisited: Die Preisträger auf Blu-ray, Teil 2

Schlafkrankheit

Schlafkrankheit

Einer der interessantesten einheimischen Beiträge des letztjährigen Wettbewerbs war ohne Zweifel Ulrich Köhlers aufwühlendes Afrika-Drama „Schlafkrankheit“. Die Geschichte ist schnell erzählt: Entwicklungshelfer Ebbo Velten (Pierre Bokma) und seine Frau Vera (Jenny Schily) planen nach Jahren der aufopferungsvollen und doch erfüllenden Arbeit an einem Projekt zur Eindämmung der afrikanischen Schlafkrankheit in Kamerun ihre Rückkehr nach Deutschland.
 
 
Drei Jahre später begegnet man dem Idealisten von einst – noch immer in Afrika – wieder: Er hat sich verändert, seine große Liebe verloren, die Hoffnungen auf die Zukunft längst begraben. Einem modernen Colonel Kurtz gleich scheint er sich in den Wirren der fremden Kultur verloren zu haben, in der unerklärlichen Faszination, der grenzenlosen Anziehung, die die geliebte zweite Heimat auf ihn ausübt. Was ist passiert während dieses mysteriösen Blackouts, den der Zuschauer im Nachhinein mit seinen eigenen Ideen füllen muss?

Angstfreies Kino ohne Kompromisse

Nach einem äußerst starken ersten Akt verliert sich der Film scheinbar selbst, wirft den anfänglichen Drive und die überzeugende Stringenz (die sich ganz im Sinne der Berliner Schule eher auf die Beziehung der Figuren untereinander als die titelgebende Problematik des Films konzentriert) freimütig über Bord. Von nun an treibt der Plot – nur scheinbar ziellos – auf ein ebenso vieldeutiges wie faszinierendes Ende zu. Diese rigorose Zweiteilung stößt den Zuschauer bewusst vor den Kopf.
 
 
Sie fordert zusätzlich zum ohnehin nicht besonders leicht verdaulichen Inhalt (der sich in der zweiten Hälfte verstärkt mit dem Für und Wider der europäischen Entwicklungshilfe in der Dritten Welt auseinandersetzt) auch in Sachen Formalität und Kinoästhetik ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit. Das schrittweise Abdriften der Figuren in die Lethargie, die Bewusstlosigkeit, die nur von gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen des inzwischen verbitterten und völlig desillusionierten Protagonisten unterbrochen wird, kreiert eine unheilvolle, geradezu vergiftete Atmosphäre, der man sich unmöglich entziehen kann.

Markante Handschrift

Eine Story im eigentlichen Sinne kann man im späteren Verlauf nur noch rudimentär erkennen. Es geht vielmehr um Bewusstseinszustände, um Gefühlslagen, um den Trip ins verfinsterte Seelenleben der Charaktere – mit dem aufmerksamen Blick eines Regisseurs, der weiß, was er will, und den unerbittlichen und nicht zu täuschenden Augen der allgegenwärtigen Kamera, die beobachtet, nie wertet, und gerade durch ihre scheinbare Unbeteiligtheit eine große Kraft entwickelt.
 
 
Der Silberne Bär für die beste Regie war eine mutige, doch auch nachvollziehbare Entscheidung der Berlinale-Jury: Als modern interpretierter Autorenfi lmer drückt Ulrich Köhler seiner Geschichte einen sehr eigenen, gleichermaßen faszinierenden wie irritierenden Stempel auf. In den Händen eines beliebigen anderen Regiekollegen hätte sich der Stoff mit hoher Wahrscheinlichkeit ungleich konventioneller dargestellt. Was bleibt, ist ein ungemein mutiger, bewusst sperriger und beileibe nicht einfacher Film, der die Grenzen der filmischen Konvention stellenweise bis zum Äußersten dehnt. Ob Köhler mit diesem cineastischen Wagnis letztendlich wirklich in ganz neue Gefilde vorgestoßen ist, in die ihm das Publikum noch willig folgen will, muss am Ende ganz sicher jeder für sich selbst entscheiden.
(Tiemo Weisenseel)

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