Jean-Philippe Kindler kapituliert im „Polygate“: Die Unmöglichkeit der Kritik

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© Focus Pocus LTD - Fotolia.com
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Jean-Philippe Kindler entschuldigt sich vierundzwanzig Minuten lang. In seinem Podcast „Nymphe & Söhne“ mit dem Titel: „mea culpa“ (zu dt.: „ich bin schuldig“) erklärt er, dass sein letztes Video „dumm“ gewesen sei, es „berechtigte Kritik“ gegeben hätte und er sich von dem Verdacht „queerfeindlich“ zu sein, rein waschen wolle. Was war passiert?

Kindler, der sich selbst als Satiriker bezeichnet, hatte auf Instagram ein kurzes eineinhalb- minütiges Video gepostet, in dem er sich über die in linken Kreisen durchaus evidente Anpreisung der Polygamie empörte.

Dabei kritisierte er allgemein die Kommodifizierung der Liebe, die Menschen, die auf der Suche nach Intimität sind, zu reinen Konsumgütern und Konsumenten macht. Was die Menschen momentan für ihre „persönliche Freiheit“ halten, gelte es zu hinterfragen:
„Es ist doch kein Zufall, dass diese Sucht nach Unverbindlichkeit in einer Zeit zur moralischen Tugend wird, in der unser Konsumverhalten ganz allgemein hin zur Kurzfristigkeit und zur Abnutzung tendiert“, stellt Kindler pointiert fest. Und weiter: „Früher konnte man seinen Partner nicht frei wählen und es ist gut, dass wir diese patriarchale Schablone überwunden haben, aber heute bedeutet Freiheit für einige offenbar, überhaupt nicht mehr zu wählen.“

„Polys haben noch nie richtig geliebt“

Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, zitiert Kindler aus dem 2020 erschienen Werk Warum Liebe endet, dem letzten Band einer Trilogie, geschrieben von der israelischen Soziologin Eva Illouz, welche darin der Frage auf den Grund ging, wie der Kapitalismus und die Kultur der Moderne unser Gefühls- und Liebesleben transformiert haben. Zum Schluss hört man aus dem Off noch den offensichtlich nicht ernst gemeinten Kommentar: „Wallah Billah! Polys haben einfach noch nie richtig geliebt!“ Das Video endet mit einem Lachen.

So weit, so trivial. Bereits in den 1980er Jahren erkannte der US-amerikanische Historiker Christopher Lasch, worauf die Zeichen der sich selbst als progressiv verstehenden linken Kulturkritik deuten, nämlich auf das „[L]oben unbeständige[r] Bindungen mit Formeln wie ‚offene Ehe‘ und ‚Beziehungen auf unbestimmte Zeit’.“

Wofür meint sich also Kindler nun genau entschuldigen zu müssen? Und was hat das Ganze mit „Queerfeindlichkeit“ zu tun?
Auf das Poly-Video folgte eine Flut an wütenden und entrüsteten Kommentaren. Eine Social-Media-Aktivistin mit dem User-Namen „FrauLoewenherz.offical“ veröffentlicht auf ihrem Kanal wenig später ebenfalls ein Video, das doppelt so lang wie Kindlers ist und in dem etwa dreifach so schnell gesprochen wird. Ihre Anklagepunkte lauten: Kindler sei ein „weißer, heterosexueller Cis-Dude“, der über Beziehungsformen rede, von denen er „offenbar keine Ahnung“ habe. Er reproduziere dabei „schädliche Stereotype“, schade so der „LGBTQ+-Community“, weil „Polybeziehungen besonders häufig in der queeren Community“ vorkämen und er folge obendrein sogenannten „TERF-Accounts“ sowie „rassistischen Meme-Seiten“. Er sei noch 2022 „mit rassistischen Witzen bei Dieter Nuhr“ aufgefallen. Mit seinem Poly-Video zeige er nun seine „subtile Queerfeindlichkeit und lege ein „eurozentrisch-christlich-kolonialistisches Weltbild“ an den Tag.

Linker Diskurs? Intellektuelle Verwahrlosung!

Diese Aneinanderreihung von bedeutungslosen Schlagworten und haltlosen Unterstellungen ist symptomatisch für den „linken Diskurs“. Es offenbart eine intellektuelle Verwahrlosung, die nur noch durch die Reaktion Kindlers getoppt wird, der meint, diese Anschuldigungen auch noch ernst nehmen zu müssen und vor dem queeraktivistischen Tribunal zu Kreuze zu kriechen.

So wenig die „Verheiligung“ polygamer Beziehungsmodelle als Zufall zu werten ist, so wenig überraschend ist die Tatsache, dass angeblich „rassistische Meme-Seiten“ für Queeraktivisten wie FrauLoewenherz.official solche sein sollen, die über linken Antisemitismus aufklären und den Islamfaschismus thematisieren. Der Quatschbegriff der „Queerfeindlichkeit“ ist noch dazu genauso sinnvoll wie der Vorwurf von „Islamfeindlichkeit“: Eine Kritik an queerer Theorie und Praxis bedeutet im Umkehrschluss weder eine Kritik an einer Homo- oder Bisexualität, noch leugnet sie die Phänomene der Trans- und Intersexualität. „Queer“ ist eben nicht dasselbe wie „LGBT“.

Eine derartige Kritik lässt sich aber kaum noch formulieren, ohne dass einem „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ unterstellt wird.
So schreibt FrauLoewenherz.official in die Kommentare unter ihr Video: „Es gibt einen Unterschied zwischen ‚eine andere Haltung‘ haben und Seiten folgen, die offen Menschenfeindlichkeit verbreiten und zur Gewalt gegen marginalisierte Gruppen beitragen.“ Darauf hinzuweisen, dass das biologische Geschlecht binär oder jeder Antisemitismus, auch der von Linken, bloßzustellen ist, sei demnach bereits das „Verbreiten von Menschenfeindlichkeit“.

Satire muss unbequem sein

Das „Polygate“ rund um Kindler wirft nicht die Frage auf, was Satire noch darf, sondern, was Satire wieder muss: Satire muss unbequem sein. Sie muss Gefühle verletzen. Die Neue Linke will ihre theoretischen Prämissen und ihre Aktivismusformen nicht mehr in Frage gestellt wissen. Selbstbezogen und unfähig valide Kritik von „Hass und Hetze“ zu unterscheiden, pocht sie auf die eigene Gefühlsduselei. Eine immanent linke Kritik, die in Form von Satire daher kommen möchte, muss selbstverständlich über diese Farce spotten.

Denn: Satire ist Spott an den elenden Verhältnissen. Wer diesen Spott nicht erträgt, weil er sich persönlich so sehr angegriffen fühlt, dass er in Jähzorn verfällt, der sollte sich besser von öffentlichen Debatten fern halten und seinen Therapeuten konsultieren.
Spott ist kein Hass. Wer denkt, ist nicht wütend. (Adorno)

Um es noch einmal mit den Worten Laschs auf den Punkt zu bringen: „Linke Kulturkritik ist so modisch-schick und leistet den Status quo unwissend einen so verheerenden Vorschub, daß jede Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Gesellschaft, die unter die Oberfläche zu dringen hofft, zugleich einen Großteil dessen aufs Korn nehmen muß, was gegenwertig unter dem Begriff einer fortschrittlichen linken Kulturkritik kursiert.“ Kindler schreibt indes auf Instagram reumütig in seiner Story, die in den Highlights „Aufarbeitung“ nachzulesen sind: „Abschließend möchte ich ankündigen, dass ich das Video löschen werde […], ich finde den Gedanken daran nicht gut, dass noch mehr Menschen sich davon in ihrer Lebensführung bewerte[t] fühlen.“ Genau. Wo kämen wir denn da auch hin, wenn Menschen, ganz besonders deutsche Linke, in ihren Gefühlen verletzt werden? Am Ende würde noch jemand denken, das Private sei politisch.

Hinweis: Dieser Kommentar spiegelt die Sichtweise der Autorin, nicht die redaktionelle Haltung von „Digital Fernsehen“ wieder.

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