
Fatih Akin zeigt in seinem neuen Historiendrama „Amrum“, warum er weiterhin zu den herausragendsten Regisseuren Deutschlands gehört.
Die Kombination aus Deutschem Film und Zweitem Weltkrieg mag bei Teilen des Fernseh- und Kinopublikums inzwischen für Augenrollen sorgen. Nichtsdestotrotz ist Fatih Akins neues Werk eine bemerkenswerte Aufarbeitung deutscher Vergangenheit. „Amrum“ ist nicht nur visuell eine Wucht auf der großen Leinwand. Er wählt auch eine spannende Perspektive, um einen Zustand des Aufwachsens in turbulenten Zeiten einzufangen. Und genau das ist „Amrum“: weniger ein ausschweifendes Handlungskino als vielmehr eine sehr kompakte Zustandsbeschreibung. Eine Momentaufnahme vom Ende des Zweiten Weltkriegs, wie es auf der Nordseeinsel Amrum in der Abgeschiedenheit erfahren wird. Erzählt und beobachtet wird das alles durch Kinderaugen.
Darum geht es in „Amrum“
„Ein Hark Bohm Film von Fatih Akin“, heißt es im Vorspann. Akin und Bohm haben über die Jahre wiederholt zusammengearbeitet. Beide haben etwa das Drehbuch des Golden-Globe-Gewinners „Aus dem Nichts“ gemeinsam verfasst. In Akins Romanverfilmung „Der Goldene Handschuh“ stand Bohm als Kneipenbesucher vor der Kamera. Für „Amrum“ hat das Duo nun auf die Kindheitserlebnisse Bohms zurückgegriffen und diese adaptiert. Der Film zeigt in anderthalb Stunden, wie sich der kleine Nanning (Jasper Billerbeck) und der Rest seiner Familie im Jahr 1945 durchschlagen. Der Vater, ein hochrangiger Nazi, befindet sich in Gefangenschaft. Die Mutter (Laura Tonke) ist zu diesem Zeitpunkt hochschwanger und versucht weiterhin, die soldatischen und nationalsozialistischen Ideale zu leben und ihren Kindern einzutrichtern. Als die Nachricht über Hitlers Tod publik wird, setzen nicht nur ihre Wehen ein, sondern sie verfällt in eine Depression.
Was Akins Film daraufhin einfängt, ist ein herausforderndes, unbequemes Charakterporträt. „Amrum“ ist ein Film des Dazwischen, sowohl was die Figuren anbelangt als auch die Landschaften, die Teil der Erzählung werden, Stimmungen zum Ausdruck bringen und die selbst zu Zwischenräumen werden. Wiederholt fängt die grandiose Kameraarbeit von Karl Walter Lindenlaub die unheimlichen Weiten ein. Das Meer, die Strände, das Watt. Zonen zwischen Zivilisation und Wildnis. Erbarmungsloses, Brutales und Schönes gehen ineinander über. In einer der visuell faszinierendsten Sequenzen findet Nanning nachts eine Leiche, währen allein das Licht des Vollmonds die Szenerie erhellt. Die Bilder von „Amrum“ muten oft wie naturalistische Gemälde an, wenn der Film Menschen bei der Feldarbeit zeigt, oder wie sie beschwerlich durch Schlamm und Sand stapfen und Dünen erklimmen.

Beeindruckende Naturbilder
Einmal gerät Nanning in die Naturgewalten, als die Flut einsetzt, und die Kamera ist hier ganz nah dran. Das Fahrrad, das der Junge von seiner Tante heimlich entwendet hat, wird vom Wasser davongespült. Nun schwimmt Nanning in höchster Lebensgefahr durch das Meer. Die Hand hält er in die Höhe, damit die Dose mit dem Zucker nicht nass wird, die er zu seiner Mutter bringen will. Spannender kann man den Konflikt und das Lebensgefühl dieses getriebenen, entwurzelten Protagonisten kaum bebildern. Und in solchen Momenten zeigt sich die Klasse von Fatih Akin, der es eben versteht, filmisch, audiovisuell zu erzählen, ohne dass er dafür große Worte braucht.
Wenn er dann seine Figuren sprechen lässt, dann ist das sehr pointiert geschrieben und bühnenhaft inszeniert. Da werden Tableaus gebaut, auf denen sich Menschen plötzlich in Bewegung setzen und verbal zu interagieren beginnen. Da werden Einstellungen in einer Dauer ausgehalten, um den Darstellerinnen und Darstellern Raum zu geben, ihre kleinsten Regungen zur Schau zu stellen. Diesbezüglich ist auch Diane Kruger hervorzuheben, die eine Frau namens Tessa spielt und in Bedrängnis gerät, als sie es wagt, das Ende des Krieges und der deutschen Armee zu beschwören. Wehrkraftzersetzung; das wirft man ihr vor. Wie beeindruckend sie das spielt! Die Standfestigkeit und demonstrierte Stärke, aber dann auch die Unsicherheit, Angst, Enttäuschung in ihrem Gesicht, weil man sie verpetzt hat.

Ein Kind in den Wirren des Kriegsendes
„Amrum“ ist ein Film darüber, wie Menschen versuchen, die alte Ordnung und damit das verbrecherische Nazi-Regime mit all seinen ideologischen Auswüchsen und Strukturen als Theater weiterzuspielen, während es längst zerfällt. Man kann diesen Film bestimmt leicht missverstehen. Denn es liegt nahe, ihn vor allem als deutschen Opfermythos zu sehen, wie schwer es doch die Leute zu dieser Zeit hatten. Ein zentrales Thema ist etwa die Lebensmittelknappheit und mangelnde Versorgung. Es entbrennt ein regelrechter Wettkampf um Güter. Dazu entspinnt sich das größte Drama darum, dass Nanning seiner Nazi-Mutter wieder ein Lächeln auf die Lippen zaubern will. Er will ihr ein Weißbrot mit Butter und Honig bringen und die Suche nach den einzelnen Produkten wird zu einer regelrechten Odyssee.
Dass Akins Film diese kindliche und damit unweigerlich naive, beschränkte Weltsicht wählt, ist in Wirklichkeit aber ein kluger Schachzug, weil dadurch eine immense charakterliche Zerrissenheit zum Ausdruck kommt. Auch in einer Haltung zur Geschichte, die zwischen einer Zuneigung für die eigene Familie und der Reflexion von deren Verstrickung in die Grausamkeiten des Systems vermitteln muss. Nanning findet die Bücher des Vaters im Regal. Rassen- und Sippenlehre. Ideologische Schriften. Die Mutter will ihre Kinder zu Hörigkeit und Anpassung erziehen, während der Nachwuchs nach einem Aufbruch, einem Platz im Leben sucht und dabei ist, eine große Desillusionierung zu erfahren.

„Amrum“ bleibt leider eine Skizze
„Amrum“ erzählt damit aber nicht einfach die naive Fantasie einer Überwindung des nationalsozialistischen Gedankenguts und einer Epoche. Er zeigt auf unterschwellige Weise, wie sich die Gewalt in Körpern und Denkweisen fortschreibt, wie jenes Gedankengut unter den Kindern und Kindergruppen längst verankert ist. Man fügt einander bereits neue Grausamkeiten zu. Die unsinnige Frage der Abstammung scheint übergroß zu sein. Immer wieder zeigt „Amrum“ dabei Horizontalbewegungen. Figuren wandern, segeln, fahren mit dem Rad und die Kamera folgt ihren Bewegungen, als würde sie auf einem Zeitstrahl voranschreiten, nur um in der nächsten Einstellung wieder an einem Ausgangspunkt erneut zu starten.
Vorwerfen kann man dem Film, dass solche Ansätze und Ideen oft nur angerissen bleiben. Man sagt das nun wirklich nicht alle Tage, aber „Amrum“ ist definitiv zu kurz geraten für seine eigenen Ambitionen. Dafür bleibt das alles nämlich zu sehr eine grob umrissene, nicht sehr weit entwickelte Skizze. Denn in den letzten Momenten beginnt die eingangs beschriebene Momentaufnahme plötzlich, ein Narrativ in Gang zu setzen. Figuren sehen sich mit einer Verlusterfahrung konfrontiert und suchen nach einem Neuanfang. Dass das filmisch so abrupt abgeschnitten wird, ist einerseits konsequent, um von einem Übergang zu erzählen. Zugleich erhält man den Eindruck, man habe gerade nur eine Exposition, einen halben Film oder den ersten Akt einer Serie oder eines dreistündigen Historienepos gesehen, der aber keine Fortsetzung findet.
Man wartet darauf, dass all die erzählerischen Fäden weitergesponnen werden, ein neues Bild ergeben, das die besagten Ansätze weiterdenkt und zusammenführt. Aber „Amrum“ bleibt letztlich eher ein Ausschnitt und Fragment, von dem man mehr sehen möchte, um sich ein abschließendes Urteil zu erlauben. Vielleicht ist das zugleich aber auch das größte Kompliment, das man Fatih Akin machen kann?
„Amrum“ feierte seine Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und läuft ab dem 9. Oktober 2025 in den deutschen Kinos.
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