
Das Historiendrama „Antonina Tschaikowski“ wirft ein abgründigen Blick hinter die Fassade der Komponisten-Legende Pjotr Tschaikowski.
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat sich wiederholt kritisch mit den Mythen und Lebensrealitäten seines Heimatlandes auseinandergesetzt. Zuletzt erschien unter anderem die Romanverfilmung „Petrov’s Flu“, die das postsowjetische Russland im wahrsten Sinne in einen Fiebertraum verwandelte. Seit 2022 lebt der Theater- und Filmemacher nun im Exil in Deutschland, nachdem er zuvor in das Visier der russischen Behörden geriet und in Hausarrest festsaß. Hintergrund waren öffentliche Gelder, die Serebrennikovs Organisation angeblich veruntreut haben sollte. Während des 18 Monate langen Hausarrests setzte der Regisseur seine künstlerische Arbeit (zum Teil über digitale Schalten) fort.
In dieser Zeit schrieb er auch am Drehbuch zu seinem Historiendrama „Madame Tschaikowski“ beziehungsweise „Tchaikovsky’s Wife“, das sich mit der großen russischen Komponisten-Legende Pjotr Tschaikowski und dessen Privatleben befasst. Bei Arte ist der Film aktuell unter dem Fernsehtitel „Antonina Tschaikowski“ online verfügbar. Nachdem ein Kinostart abgesagt wurde, konnte man die französisch-russische Produktion bislang nur als Video-on-Demand digital erwerben. 2022 wurde der Film in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes eingeladen. Beim diesjährigen Festival war der Regisseur erneut mit einem neuen Film namens „Das Verschwinden des Josef Mengele“ vertreten.

Darum geht es in „Antonina Tschaikowski“
Der Titel des Dramas verrät bereits: Serebrennikov betrachtet den „Schwanensee“-Komponisten aus Sicht seiner Ehefrau Antonina Miljukowa. Sie himmelt Tschaikowski an, liebt ihn und seine Musik. 1877 heiraten die beiden schließlich, doch nach der Hochzeit wartet recht schnell große Ernüchterung auf die junge Frau. Pjotr ist in Wirklichkeit homosexuell. Seine Ehe mit Antonina dient ihm vor allem als Scheinbeziehung und Inszenierung für die Außenwelt. Im zaristischen Russland ist Homosexualität tabu.
Also entbrennt fortan ein erbittertes psychologisches Duell zwischen den beiden. Kälte und Grausamkeit halten Einzug in den Haushalt. Nichtsdestotrotz setzt Antonina alles daran, die toxische Ehe aufrecht zu erhalten und mehr zu sein als nur ein Spielball und ein Feigenblatt für den begehrten Künstler. Doch als Frau sind ihr in der sexistisch strukturierten Gesellschaft die Hände gebunden.

Bildgewaltiges psychologisches Drama
Kirill Serebrennikov inszeniert die scheiternde Ehe als langsamen Absturz in den Wahnsinn, der in einer furiosen Nackt-Tanznummer gipfelt. Nicht nur hier werden Serebrennikovs künstlerische Schnittstellen zwischen dem Film und theatralen Praktiken sichtbar. Vor allem aber hat der Regisseur offensichtlich viel Akribie an den Tag gelegt, um das Russland des 19. Jahrhunderts für sein groß angelegtes Sittenporträt zu rekonstruieren. „Antonina Tschaikowski“ ist trotz seiner Konzentration auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und Dialoge ein sehr bildgewaltiger Film, der in langen Einstellungen seine aufwändig ausstaffierten Kulissen erkundet.
Zugleich lassen die düsteren und dennoch malerisch schönen Bilder die ganze Enge und Beklemmung der Situation, in der sich seine Protagonistin wiederfindet, spürbar werden. Das Russland von Serebrennikov ist stets eines, das durch die Augen und Stimmungen seiner Figuren wiederaufersteht. Von dem männlichen Geniekult um die Gestalt Tschaikowskis bleibt hier ein finsteres Psychogramm und letztlich ein regelrechtes Gruselkabinett voller gekränkter Egos, entblößter Gestalten, zerstörerischer Geschlechterbilder und repressiver Normen übrig.
„Antonina Tschaikowski“ kann man noch bis zum 10. Juni in der Arte-Mediathek streamen. Aufgrund der Altersbeschränkung allerdings erst nach 22 Uhr.
Update vom 26.5.: Der Name „Antonina Tschaikowski“ wurde korrigiert.
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