Geteiltes Kino-Leid: Filmkunstmesse beginnt mit „Mehr denn je“

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Foto: Pandora Film

Am Montagabend begann die 22. Filmkunstmesse, bei der sich die Kinobranche in Leipzig trifft, um einen Blick auf das Winterprogramm zu werfen und sich für die von Krisen geprägte Zukunft zu wappnen.

Welche Filme gehören überhaupt noch ins Kino? Für welche Filme begeben sich Menschen an diesen besonderen Ort? Schon in der Pressekonferenz vor einigen Wochen hatte Felix Bruder, Geschäftsführer der AG Kino Gilde, auf diese Frage verwiesen. Es ist nur eine von vielen, die es im Rahmen dieser 22. Leipziger Filmkunstmesse zu diskutieren gilt, um Kinos zwischen Streaming-Konkurrenz, Energie- und Finanzkrise erhalten zu können.

Ein Überangebot ist da, zahlreiche Filme konkurrieren jede Woche um Aufmerksamkeit. Dazu gesellt sich ein offenbar schwächelndes Interesse an Kino allgemein, das nach der Corona-Pandemie nicht so leicht zurückkehren will und nun mit finanziellen Mehrbelastungen und Unsicherheiten noch weiter abzunehmen droht. Auf der Messe will die Branche beratschlagen, in Seminaren, Panels und Workshops zusammenkommen. Und natürlich: jede Menge Filme aus dem bevorstehenden Winterangebot sehen. Auch im Rahmen der Messe buhlen die zahlreichen Filme um Aufmerksamkeit, um demnächst vielleicht in den Spielplänen des Landes aufzutauchen.

Über 80 Titel stellen Verleiher im Programm vor, darunter mehrere Filme von den Festivals in Cannes und Venedig. Zu ihnen gehören preisgekrönte Werke „Tár“ mit Cate Blanchett oder auch Ruben Östlunds satirischer Cannes-Gewinner „Triangle of Sadness„. Mit letzterem eröffnete das brancheninterne Programm am Montagabend, während man für die Öffentlichkeit ein überraschend andersartig gestricktes Werk ausgesucht hat.

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„Mehr denn je“ von Emily Atef eröffnet die Messe

Erneut: Welche Filme gehören ins Kino? Was macht sie aus, diese geteilte Erfahrung? Mit Emily Atefs „Mehr denn je“ (Kinostart am 1. Dezember 2022) begann der öffentliche Teil der Filmkunstmesse mit einem leisen, auf den ersten Blick unscheinbaren, aber äußerst einnehmenden Drama. Atef hatte in der Vergangenheit mit dem eindrucksvoll verdichteten Romy-Schneider-Biopic „3 Tage in Quiberon“ schon einmal einen echten Arthouse-Hit hingelegt. „Mehr denn je“ könnte in diese Fußstapfen treten. Erneut erzählt die Regisseurin von einer Frau, die ihrem Ende entgegenblickt und um Kraft und Würde ringt.

Vicky Krieps spielt in diesem Film eine 33-Jährige, die aufgrund einer seltenen Lungenkrankheit nicht mehr lange zu leben hat. Während sie sich ins Ausland absetzt, um dort ihre letzten Tage zu verbringen, lässt sie ihren Partner Mathieu (gespielt von dem 2022 verstorbenen Gaspard Ulliel) in Bordeaux zurück. Doch Mathieu kann die Distanz und Hilflosigkeit nicht ertragen und reist ihr hinterher. Es beginnt ein Kampf um das Recht, sich voneinander verabschieden, aber auch nach den eigenen Vorstellungen aus dem Leben scheiden zu können.

Foto: Pandora Film

Überraschend zurückhaltender Auftakt

Man hätte diese Filmkunstmesse mit einem verspielten, experimentellen, vielleicht sogar einem aggressiven und polemischen Werk eröffnen können, um Kino als Ort des Protests, der politischen Debatte, der künstlerischen Wagnisse zu betonen. Aber Nein, die Messe hat sich mit „Mehr denn je“ für ein andächtiges Werk, eine kollektive Leidenserfahrung entschieden, die ganz ohne große Gesten, ohne eine Überwältigung auskommt und damit umso länger wirkt.

Emily Atef hat mit ihrem reduzierten Film vor allem einen faszinierenden Stimmungsraum kreiert. Es ist das Durchstreifen einer Zwischenwelt: Norwegen mit seinen malerischen Landschaften, in denen es nicht dunkel werden will. Aber es ist auch ein Ort der Kreatürlichkeit, ein zwielichtiges Niemandsland, das im ersten Moment das wörtliche Schnappen nach frischer Luft bietet, aber dann doch wieder nur auf das eigene Verlorensein, den körperlichen Zerfall verweist. Vicky Krieps‘ Figur erscheint im selben Moment wie der glücklichste, der einsamste und traurigste Mensch der Welt.

Foto: Pandora Film

Dem Sterben zusehen

Das bringt so wunderbar etwas ins Schwingen, obwohl „Mehr denn je“ sicher kein allzu unkonventionelles oder neu erfindendes Werk ist! Wie Menschen dem Leben davonlaufen, sich an diesem kuriosen Ort vor dieser großen Leinwand einfinden, um einer Frau und einer Beziehung beim Sterben zuzusehen und der eigenen Vergänglichkeit ins Auge zu blicken. Um die Zeit für zwei Stunden anzuhalten, sich auf dieses Innerstes konzentrieren zu können, fernab aller Alltäglichkeiten, wie es die Figur von Vicky Krieps während ihrer Reise ebenfalls versucht.

Die große Leistung von Emily Atef besteht darin, dass sie zum Thema des selbstbestimmten Sterbens keinen Thesenfilm gedreht hat, kein Austauschen von Argumenten, sondern schlicht ein genaues, taktiles Beobachten zweier Menschen, die sich in einem ausweglosen Dilemma befinden und zwischen Tod und Weiterleben einen Kompromiss ersuchen. Es ist ein Werk, das gerade in seinem starken letzten Akt gleichermaßen die Leidenschaft wie das Vergehen anrührend einzufangen weiß. Atef inszeniert eine herausragend intime Sexszene und einen Moment der Trennung, der so unerbittlich, so konsequent, so zärtlich Figuren und Publikum entzweit. Vier weitere Tage hat die 22. Leipziger Filmkunstmesse Zeit, solche erinnerungswürdigen Momente für die kommenden Kinomonate zu präsentieren, zu bergen, vorzubereiten, ins Rampenlicht zu ziehen.

Die 22. Leipziger Filmkunstmesse findet vom 19. bis 23. September 2022 statt. Einen Überblick über das Programm findet man hier.

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