Willkommen in meiner Sekte: „Encanto“ und „A Pure Place“ im Kino

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Die Grenzen zwischen Gemeinschaft und Zwang, Familie und Sekte können fließend sein: Der neue Disney-Animationsfilm „Encanto“ und die deutsche Filmgroteske „A Pure Place“ laufen jetzt in den Kinos.

Blicke auf die Kinoleinwände eröffnen in dieser Woche die Sicht auf geschlossene Gesellschaften. In dem einen Fall als publikumswirksames Familienspektakel, in dem anderen als Genrefilm-Geheimtipp. Hier als bunte Utopie, dort als schräge Schreckensvision. Der Riesenkonzern Disney ist bekannt für solche geschlossenen Gesellschaften. Selbst die übermächtigen Eternals in dem gleichnamigen Superhelden-Blockbuster verlieren sich inzwischen zwar in kosmisch-titanischem Gewimmel, kämpfen in erster Linie aber um Intimität, ein Beisammensein im kleinen Kreis, während man über den Fortbestand der Menschheit streitet.

Disney’s neuer Familienfilm „Encanto“ beginnt nun mit einer Fluchtgeschichte. In den Bergen Kolumbiens findet eine Gruppe Geflüchteter Unterschlupf vor ihren brutalen Verfolgern. An einem magischen Ort, einem verzauberten Heim, das sich eröffnet, das lebt und sich bewegt und ein Paradies bietet. Hier wächst Mirabel Madrigal auf, die als einziges Mitglied der Madrigal-Familie nicht mit einem besonderen Zaubertalent auf die Welt kam und nun ihren Platz in der Gesellschaft sucht.

Visuell faszinierende Zauberwelt

Das verzaubert als Film zumindest dann, wenn „Encanto“ sein offensichtlichstes Potential als Animationsfilm nutzt. Im Entgrenzen und Verfremden, wüsten Montieren und Verformen. Alles kann sich verwandeln, alles schimmert und funkelt und lässt seinen eigenen Kosmos wachsen, keine festen Regeln von Raum und Zeit gelten da. Gerade dann, wenn die (leider allzu generischen und schnell vergessenen) Songs von „Hamilton“-Schöpfer Lin-Manuel Miranda performt werden.

„Encanto“ bemüht sich dabei als weiteres Disney-Werk um offensichtlich ausgestellte Diversity auf der Leinwand, um eine Repräsentanz und Darstellung von Minderheiten und marginalisierten Personen, die dann ganz universelle Probleme im Film durchspielen. Es fühlt sich nett gemeint, aber wenig fruchtbar an. Wie ein Diskussionsbeitrag, der mit sich selbst spricht, aber wörtlich im Niemandsland stattfindet.

Beschützt die Kerze!

Disney’s Film-Kolumbien erscheint als eskapistische, kunterbunte Fantasiewelt, die recht charmant ermahnt, Mitmenschen nicht bloß an ihren Leistungen zu messen. Dafür muss dieses streng behütete Paradies aufgebrochen werden, in dem die Familie und die restliche Gemeinschaft in ihrer jahrelangen Konstruktion wie eine Sekte anmuten, inklusive religiöser Praktiken und Riten. Eine magische Kerze gilt es zu behüten, die die Magie und Werte dieses wundersamen Ortes wahrt.

Mit den neu gewonnen, zwischenmenschlichen Erkenntnissen nun nach draußen zu gehen, davon will hier noch keine Rede sein. Ein echtes Draußen gibt es in diesem Film ohnehin nicht mehr. Die alten Dachschindeln und Fliesen werden lieber wieder zusammengeflickt. Mit dem Schrecken der Welt hat man abgeschlossen. Menschlich nachvollziehbar, künstlerisch kraftlos. Ein Trostpflaster, das Disney da verteilen will. Alles ist gut, solange dein Haus verzaubert ist. Solange sich der Kinosaal so verträumt und hermetisch dem Exotischen hingibt.

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Die groteske Welt von „A Pure Place“

„A Pure Place“, das neue Werk des deutsch-griechischen Regisseurs Nikias Chryssos, antwortet in dieser Woche auf spannendere, sprödere Weise auf solche Rückzugsfantasien. Chryssos, das ist einer, der vor allem mit „Der Bunker“ für Aufsehen gesorgt hat. Der als eines der vielversprechenden Talente eines neuen hiesigen Genrekinos galt. Mit seinem neuen Film bereitet er diesem Ruf alle Ehre. Wie „Encanto“ handelt auch „A Pure Place“ vom Traum einer heiligen, paradiesisch lebenden, abgeschirmten Gemeinschaft und den Brüchen, die sich darin auftun. Auf einer griechischen Insel regiert der Guru Fust, seine Sekte lebt vom Verkauf von Seife, die wiederum Kinder in der dunklen Unterwelt, einer Art Nibelheim, herstellen müssen. Reinheit ist auf der Insel oberstes Gebot, äußere Reinheit und innere Reinheit, das gilt es zu erlangen.

Seife, Mystik, Klassenkampf

Ebenso klinisch und unbequem rein wirken auch die märchenhaften Bilder, die Chryssos in der Oberwelt in Szene setzt. Man könnte, wo doch beide Werke simultan im Kino zu sehen sind, zynisch feststellen: Hier oben offenbart sich die strenge Makellosigkeit, die man auch aus den Disney-Filmen kennt, in einer pervertierten Kehrseite. Das ist aber zum Glück nicht einfach ein Film, der nach einem Dekonstruieren und einem erneuten Zusammensetzen dieser Welt sucht, sondern der noch das echte Rebellische, Umstürzende versucht, wenngleich viel im Vagen bleibt.

Man hat diverse Einzelstücke davon schon in vielen anderen Sektenfilmen gesehen, durch die sich der Film visuell zitiert. Ohnehin drängt sich ein Gefühl auf, dass sich „A Pure Place“ etwas ziellos durch sein eigens erschaffenes Konstrukt wundert, aber den Absprung zum völligen Freidrehen verpasst. Ein Unikum stellt Chryssos Werk dennoch dar. Weil einem kein anderer Film der jüngeren Vergangenheit einfällt, der so schamlos überambitioniert, aber auch so wunderbar grotesk und verspielt Mysterien-Kitsch, Nibelungen, Faschismus und Klassenkampf in seiner Motivik ineinanderfließen lässt.

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  • Bilder (m)einer Mutter
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Bildquelle:

  • encanto: Koch Films/ Walt Disney Company

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