
Die Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow („Zero Dark Thirty“) zeigt in ihrem Netflix-Film „A House of Dynamite“ die Welt am Rande des Atomkriegs.
Am Ende des Kalten Krieges haben sich die Menschen darauf geeinigt, dass sie mit weniger Atomwaffen besser beraten wären. Doch diese Zeit ist nun vorbei, heißt es in riesigen Lettern am Beginn des Films. Acht Jahre musste man warten, bis Kathryn Bigelow, die preisgekrönte Regisseurin hinter Werken wie „Zero Dark Thirty“ und „The Hurt Locker“, mit einem neuen Spielfilm zurückkehrt. Und das Comeback ist ihr furios gelungen! „A House of Dynamite“ ist einer der besten, vielleicht DER beste Netflix-Film des Jahres. Es erscheint aktuell zumindest fraglich, ob der Streamer 2025 noch einmal einen spannenderen Titel veröffentlicht. Am Dienstag feierte der Film seine Weltpremiere auf der Biennale in Venedig. Nächsten Monat erscheint er auch in Deutschland.
Die Prämisse von Bigelows Thriller ist dabei so erschreckend wie simpel. Gleich in den ersten Bildern findet laut donnernd die Zündung einer atomar bestückten Rakete statt und schnell wird deutlich: Sie fliegt in Richtung USA. Sofort setzt der Ausnahmezustand in den Behörden und PC-Pools des Staates ein. Zunächst versucht man noch, einen kühlen Kopf zu bewahren. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Wenige Minuten bleiben zum Handeln, ehe der Einschlag bevorsteht. Berechnungen ergeben, dass die Atomrakete Chicago treffen wird. Ein Versuch, die Waffe abzuschießen, geht schief. Was also tun? Was sagt man der Bevölkerung, die von jetzt auf gleich dem Tod ins Auge blickt? Und wie verhält man sich zum Rest der Welt? Holt man aus zum Gegenschlag?
Eine Atomrakete nähert sich den USA
„A House of Dynamite“ verfolgt quasi in Echtzeit, wie die Stimmung überkocht und die USA dem Atomschlag hilflos entgegenblicken. Die Tragödie der Gegenwart besteht darin, dass sich die Menschheit jahrzehntelang hochgerüstet hat. Man hat einander Macht in einem Wettkampf demonstriert, aus dem am Ende niemand als Gewinner hervorgehen kann. Was, wenn das Drohszenario tatsächlich eintritt? Bigelow hat damit vordergründig einen politischen Thriller, aber auch einen Horrorfilm gedreht. Sie spielt filmisch durch, was der Ernstfall bedeutet. Ihr Publikum soll sich zwei Stunden lang der Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung aussetzen. Die Regisseurin setzt dabei auf einen oft dokumentarisch anmutenden, beobachtenden Stil. Sie arbeitet mit agiler Kamera, nimmt schnelle Zooms und Schwenks im Raum vor und sucht permanent den neuen Fokus, als sei sie gerade unmittelbare Zeugin einer realen Eskalation.
Der zentrale Kniff der Inszenierung von Bigelow und des Drehbuchs von Noah Oppenheim besteht jedoch darin, dass die Katastrophe selbst eine Leerstelle mit Fragezeichen bleibt. Sie bleibt eine zeitliche Dauer der Suspense, die innerhalb des Films nie aufgelöst wird, aber wiederholt neu ansetzt, um die letzten Minuten bis zur Katastrophe aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. „A House of Dynamite“ besteht aus drei Kapiteln, die den amerikanischen Präsidenten (Idris Elba), die Wächter über die Atomwaffen und die Hüter und Vermittler der nationalen Sicherheit begleiten. Nach und nach überkreuzen sich die Episoden und Handlungsstränge und man verfolgt das schier atemlos. Die Spannung, die der Film in kürzester Zeit aufbaut, ist kaum auszuhalten und sie resultiert vor allem aus der Begrenzung der Perspektive.

Was „A House of Dynamite“ und „Oppenheimer“ verbindet
Bigelow zeigt Menschen, die am Telefonhörer hängen und überfordert auf Bildschirme starren. Die Welt ist zu einem gänzlichen Abstraktum aus Pixeln geworden. Die Rakete und Bedrohung selbst ist nicht mehr als eine Grafik auf dem Monitor. Man hat die Grenzen des Vorstellbaren und des menschlichen Handelns erreicht. Was dort draußen bald Realität wird, ist längst der Erfahrung entrückt, weil sich die atomare Apokalypse, die sich die Menschheit als Gefahr der eigenen Auslöschung beschworen hat, letztlich als verschlingendes Nichts entpuppt.
Die Musik des Komponisten Volker Bertelmann macht indes vor allem dort weiter, wo dessen Score zu „Konklave“ endete. Wieder setzt Bertelmann auf diese nervösen Streicher, fallenden Tonfolgen und dumpfen Zäsuren. Mitunter besticht „A House of Dynamite“ aber auch mit beklemmender Stille. In entscheidenden Momenten halten alle die Luft an. Die Musik verstummt. Im Hintergrund piepen und klingeln nur noch Gerätschaften, während der Mensch nichts mehr zu sagen hat.
Dreifach schlägt also im Film die Rakete ein, oder doch nicht? Und jedes Mal kippen die Bilder ins Dunkel. Man kann das gut in einem Austausch mit Christopher Nolans Oscar-Gewinner „Oppenheimer“ betrachten. Beide Filme widersetzen sich einer filmischen Tradition, die oft auf visuelle Abschreckung gesetzt hat. Filme wie „The Day After“ (1983) haben versucht, die atomare Auslöschung, die Explosion und Zerstörung, die Leichen und Verwundungen in reißerische Bilder zu fassen. „Oppenheimer“ und „A House of Dynamite“ verzichten jedoch auf derlei Gräuelbilder, sondern konzentrieren sich auf die Geopolitik im Hintergrund der Katastrophe. Wo der visuelle Horror zur Gewohnheit in den Künsten geworden ist, fokussieren sie stattdessen den Zynismus und die Fehlkalkulation, die nun auf die reale Manifestation jener Bilder reagieren müssen.

Wahnsinn oder Realität?
Nolan hatte vom Bau der ersten Atombombe erzählt. Sie wurde in seinem Narrativ zur Vollendung einer wissenschaftlichen Obsession und eines Machthungers. Deren Folgen für die Menschheit blieben derweil die bewusst ausgeblendete Lücke in der Wahrnehmung, ein Wegsehen, das den Protagonisten und Schöpfer des Übels später gespenstisch und als vage Ahnung heimsucht. Der Film musste dafür international viel Kritik einstecken. Dabei war gerade das eine der cleversten Entscheidungen Nolans. Im Gedächtnis blieb von „Oppenheimer“ vor allem das Bürogespräch, in dem auf bizarre Weise überlegt wird, über welcher Stadt man die Bombe am besten abwerfen soll. „A House of Dynamite“ dehnt den Schrecken dieser Sequenz auf zwei Stunden Laufzeit.
„Das ist Wahnsinn. Nein, das ist die Realität.“ Manchmal ist ganz plump, wie Figuren in Dialogen den Terror des Films und unserer Gegenwart auf den Punkt bringen. Und das sind unfassbare, weil so realistisch anmutende, vorstellbare Szenen, die sich dort abspielen. Das Verstörende an „House of Dynamite“ ist, mit welcher Sachlichkeit und Kälte hier bis zuletzt über die schlimmste Gewalt gesprochen wird, obwohl längst alle die Nerven verlieren. Vom „Verlust einer Stadt“ spricht man da beiläufig, als habe man einen Schlüsselanhänger oder dergleichen verloren. Aber was heißt das eigentlich? Das Ende der Welt wird zu einer Abfolge geplapperter Codes, das Schicksal zahlloser zum Tode verurteilter Menschen zu einer Koordinate in Aktenordnern und auf Bildschirmen.

„A House of Dynamite“ bietet keine einfache Antwort
„A House of Dynamite“ lässt seine Figuren darüber grübeln, ob man den drohenden Atomschlag einfach als Niederlage akzeptiert, um noch viel Schlimmeres zu verhindern. Aber recht schnell attestiert Bigelows Film den Herrschenden eine ideologische Starre bis zum Schluss. Bevor man selbst untergeht, überlegt man lieber, welches Land man mit in den Abgrund reißt. Man will die Schmach nicht auf sich sitzen lassen und steht nun vor der Entscheidung, ob man ebenfalls eine Atomrakete losschickt oder nicht. Nur: Wohin überhaupt?
Der Thriller lässt offen, welches Land zu dem Anschlag ausgeholt hat. Das ist auch nicht seine zentrale Frage und Handlung. Alle beschuldigen sich hier gegenseitig und wollen von nichts gewusst haben. „A House of Dynamite“ kann weder Antworten noch Lösungen bieten, weil der Film einen Punkt in der Menschheitsgeschichte zeigt, aus dem es in letzter Konsequenz kein Entkommen mehr geben kann. Für nichts und niemanden. Und in besagter Konsequenz ist Bigelow einer der stärksten und erschreckendsten Filme zur Misere des atomaren Wettrüstens und des neuen, alten Kalten Krieges gelungen.
„A House of Dynamite“ feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Ab dem 9. Oktober 2025 läuft er in den deutschen Kinos, bevor er am 24. Oktober bei Netflix erscheint.
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