„Holy Spider“: Wie ein brutaler Mörder zur Ikone wird

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Frau mit Kopftuch bei Nacht
Foto: Alamode Film

Regisseur Ali Abbasi hat mit seinem hochspannenden Thriller „Holy Spider“ die wahre Geschichte eines iranischen Serienmörders adaptiert.

Die finalen Bilder vergisst man nicht so schnell. Aus ihnen spricht all das zu Tage beförderte Übel. Sie stülpen die gesamte Chronologie um, schließen einen Kreis, um wieder von vorn beginnen zu können. Sie weiten den Blick auf das große Ganze eines vergifteten Systems. Ein kleiner Junge simuliert da vor der Kamera einen Mord. Er erklärt, wie genau es mit dem Erdrosseln funktioniert. Als Opfer für sein Schauspiel muss dabei seine jüngere Schwester herhalten. „Ich bin tot!“, lächelt sie in die Kamera, während sie in einen Teppich gerollt wird – bereit, um entsorgt zu werden. Ein grausames Kinderspiel als Epilog ist der Dreh- und Angelpunkt von „Holy Spider“, dem dritten Kinofilm von Ali Abbasi.

„Holy Spider“ erzählt von der Jagd auf einen Mörder, dessen Identität von Anfang an offenkundig ist. Hier geht es nicht darum, reißerische Rätsel zu lösen, Motive zu entschlüsseln, verblüffende Wendungen zu erfahren. Stattdessen studiert Abbasis Thriller ganz grundlegende Narrative des Verbrechens: die (Selbst)Inszenierung des Mörders, die Reaktionen der Behörden, die Rolle derer, die dem Verbrecher das Handwerk legen. Und schließlich: unsere Rolle, die Blicke der Zuschauer.

"Holy Spider" ist Krimi und Justizthriller zugleich
Foto: Alamode Film

„Holy Spider“ basiert auf einer wahren Mordserie

Die eingangs erwähnten Kinder sind die Nachkommen von Saeed Hanaei (Mehdi Bajestani). Der Zimmermann hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts 16 Frauen in Maschhad ermordet. Er rechtfertigte es mit Gott und vermeintlichen Sitten. Die Straßen der heiligen Stadt im Iran wollte er von sündhaften, verdorbenen Frauen bereinigen. „Holy Spider“ rekonstruiert dieses Vorgehen, begleitet den Täter auf dem Moped durch schummrig beleuchtete Straßenzüge, schaut in die angsterfüllten Augen seiner Opfer.

Abbasi wurde mit dem Mystery-Drama „Shelley“ und dem folkloristisch angehauchten „Border“ bekannt. „Holy Spider“ ist nun sein erstes abendfüllendes Werk, das komplett ohne fantastische Elemente auskommt, aber nicht weniger hypnotisch und packend gelungen ist. Abbasi präsentiert erneut sein ganzes Können als Regisseur für politisches, höchst intensives Genrekino. Wieder ist er mit einem Werk für Dänemark im Oscar-Rennen. Mit teils verstörend drastischen Aufnahmen von sterbenden, geschundenen Körpern, unheilvoll düsteren Stimmungsräumen und dröhnenden musikalischen Klängen ist „Holy Spider“ ein beklemmender Trip in die Abgründe der Nacht und einer ganzen Gesellschaft.

Eine Journalistin ermittelt

Der Filmemacher, 2002 von Teheran nach Europa ausgewandert, hat sich dabei für eine gespaltene Struktur entschieden: Zwei Erzählperspektiven, die sich in der Mitte treffen, um einen zweiten großen Akt einzuläuten. „Holy Spider“ ist ein Film Noir, der sich zur Sozialklage verwandelt, ein Serienkillerfilm, der vom Justizdrama abgelöst wird. Dem „Spinnenmörder“ Saeed steht hier eine Journalistin (Zar Amir Ebrahimi) gegenüber, die sich in einer missbräuchlichen, männerdominierten Welt zu behaupten versucht.

Als unverheiratete Frau will man ihr in Maschhad zunächst kein Hotelzimmer geben. Was, wenn die Sittenpolizei kommt? Das Kopftuch sitzt nicht richtig. Jenes Stück Stoff, mit dem in der Stadt derweil immer wieder Frauen symbolträchtig zu Tode gewürgt werden. Später wird sie Opfer weiterer Zurechtweisungen und Übergriffe, auch durch angeblich Verbündete. Und dann der Schock: Plötzlich scharen sich Anhänger um den Mörder und jubeln ihm zu, verehren ihn.

Zar Amir Ebrahimi als Journalistin in "Holy Spider"
Foto: Alamode Film

Szenen einer misogynen Gesellschaft

Aus dem gejagten Verbrecher wird ein Held und selbsterklärter Märtyrer, das religiös geprägte Motiv des Radikalen stößt auf fruchtbaren Boden. Menschen demonstrieren für seine Freilassung. Mord als Selbstjustiz wird plötzlich zum probaten, zerstörerischen Mittel, das sich anmaßt, zwischen wertem und unwertem Leben zu unterscheiden. Die Welt, verschlungen von der eigenen verqueren Ideologie. Wie tief toxische Männlichkeit und Misogynie in gesellschaftliche Strukturen eingesickert sind, wie sich religiöser Fundamentalismus und das Patriarchat gegenseitig die Hand reichen – das entlarvt „Holy Spider“ auf eindringliche, unbequeme Weise.

Ali Abbasi konfrontiert sein Publikum dabei mit den verheerenden Mechanismen von Sexismus: Das begehrte Gegenüber wird zum Objekt degradiert, bestraft und vernichtet dafür, dass es begehrt wird. Es wird in Rollen gedrängt, auf bloße Triebe reduziert, nicht mehr als gleichwertiger Mensch erkannt. Mit jeder Leiche, über die sich Saeed erhebt, wachsen Triumphgefühl und Schuld gleichermaßen. Privater und öffentlicher Raum durchdringen sich als Jagdrevier und Schauplatz sexueller Gewalt und alle sind Teil von ihm.

Das große Kunststück dieses großartigen, preisgekrönten Films besteht für solche Beobachtungen auch darin, mit Sehgewohnheiten zu brechen. Gerade dann, wenn es um die Platzierung von dramaturgischen Höhepunkten geht. Er zitiert und bedient verführerische Spannungsbögen, wie man sie aus ähnlichen Genrefilmen kennt, nur um sie letztlich zu unterwandern, unbehaglich ausfransen zu lassen. Geheimnisse und Zuspitzungen erscheinen dort, wo sie die Konventionen nicht vermuten lassen.

Holy Spider: Saeed
Foto: Alamode Film

Wie weit geht die Lust am Bösen?

Abbasis Thriller raubt sich schließlich trotz einer gewissen Sensationslust an all dem Horror ein Gefühl der Genugtuung oder gar Erlösung. Stattdessen legt seine Klimax nur weitere Vergehen, Unaufhaltsamkeiten und Dimensionen repressiver Ideologien offen. Welche Aktualität und Schlagkraft sie besitzen, beweisen derweil die medialen Bilder, die von den aktuellen Revolutionsbestrebungen im Iran in die Welt gelangen. Das Verbrecherische eines behördlich gestützten Unterdrückungssystems reproduziert sich selbst, wird unaufhaltsam an nachfolgende Generationen weitergetragen, sofern sie niemand erkennt und einschreitet, aufbegehrt. Und sei es durch die selbstreflexiven Möglichkeiten von Kunst.

Allein dafür benötigt es diesen Film: „Holy Spider“ dringt in finsterste Schatten vor, um letztlich die eigene Bildproduktion und Fiktion zu hinterfragen. Es ist zunächst, das darf man nicht vergessen, ein True-Crime-Stoff von vielen. Mit dem Reinszenieren realer Verbrechen wird auch hier versucht, deren Einbettung in die Zusammenhänge sozialer Praktiken zu durchleuchten. Aber wo endet rationales, aufklärerisches Bestreben, wo beginnt die pure Faszination für das Böse? Wie steht es um die Gewichtung von Opfer- und Täterperspektive? Und was macht all dies mit den Zeugen, die das Gesehene in sich eindringen lassen?

„Holy Spider“ verschiebt diese Grenzen durch seine Aufteilung der Blickwinkel immer wieder aufs Neue, bis die filmische Sichtweise per se zur Diskussion steht. Da sind wir wieder bei den spielenden Kindern, den Nachahmenden: Als Film im Film tauchen sie auf, beobachtet durch die mediale Brille. Alles nur künstlerische Darstellung, ein vorgeführtes So-tun-als-ob, etwas vermeintlich Folgenloses. Mitnichten, ihre Unschuld hat dieses Handeln, haben diese Bilder längst verloren. Ja, sie haben sie nie besessen.  

„Holy Spider“ läuft seit dem 12. Januar 2023 im Verleih von Alamode Film in den deutschen Kinos. Seine Weltpremiere fand 2022 in Cannes statt, wo er den Preis für die beste Schauspielerin gewann. Der Film ist zudem Dänemarks Oscar-Beitrag für die Kategorie Bester Internationaler Film.

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