
Erst ermorden die Terroristen des NSU neun Menschen mit ausländischer Herkunft, dann die Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007. Ihr Tod spielt auch in einem gelungenen ARD-Thriller eine Rolle.
Zwei Schüsse fallen im April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese. Es sind Schüsse, die bis heute nachhallen – die eine Stadt erschüttern, Politiker schockieren, Ermittler und Juristen immer wieder ratlos zurücklassen. Der Mord an der jungen Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter ist der letzte und wohl rätselhafteste des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Warum die kleine Terrorzelle ausgerechnet in Heilbronn zuschlug, ist bis heute ungeklärt – und öffnet Raum für Spekulationen und Legenden. Genau diese Leerstellen greift der neue SWR-Thriller „Die Nichte des Polizisten“ auf. Er orientiert sich an den Fakten, lässt aber auch Vermutungen zu, ohne in Verschwörungsfantasien abzudriften.
Das Erste zeigt „Die Nichte des Polizisten“ am Mittwoch, 8. Oktober, um 20.15 Uhr. Bereits vom 3. Oktober an ist das True-Crime-Drama in der ARD-Mediathek abrufbar.
Kein Verschwörungsnonsens
Kiesewetter stammte wie das NSU-Trio aus Thüringen. Auch in ihrer Einheit gibt es Kollegen mit rechtsextremen Zügen. Ein Zufall? Rund 300 Kilometer von Kiesewetters Heimat entfernt? Regisseur Dustin Loose und sein Team verdichten bekannte Fakten und viele Fragen zu einer packenden Fiktion. Gleich zu Beginn macht ein Hinweis klar: „Diese Geschichte ist fiktional. Aber nicht nur. Auch das Mögliche, Verlorene und Vergessene wird erzählt.»“
Viele Details im Film sind der Realität entnommen – und doch ist es kein Biopic von Michèle Kiesewetter. Loose will vor allem die offenen Fragen ins Zentrum rücken und zeigen, wie sehr rechte Strukturen und radikale Netzwerke im Hintergrund gewirkt haben könnten. „Es geht ja nicht um einen Zufallsmord“, sagt Loose. „Es handelt sich um eine bei Tageslicht durchgeführte Hinrichtung einer Polizistin im Dienst an einem öffentlichen Ort. Die Tat war ein Zeichen. An uns und an die Gesellschaft.“
Vom Ehrgeiz zur Angst
Aus der realen Polizistin wird in der „Nichte des Polizisten“ die 23-jährige Rebecca Henselmann (eindringlich und überzeugend in ihrer ersten großen Hauptrolle: Magdalena Laubisch). Als ehrgeizige Anwärterin bei einer baden-württembergischen Polizei-Spezialeinheit säuft, quält und schwitzt sie sich durch die Ausbildung. Ihr Ziel: Sie will ins Stammpersonal der Elitetruppe.
Henselmann wird bei verdeckten Operationen gegen die Drogenszene eingesetzt und kommt Schritt für Schritt aus der Deckung, als sie mit organisierter Kriminalität und rechtsextremen Tendenzen in der Polizei konfrontiert wird. Über ihren Onkel, den in Thüringen arbeitenden Polizisten Werner Barth (Thorsten Merten), hat sie bereits erfahren, wie die Rechten Einfluss nehmen – bis in die eigene Einheit und bis nach Heilbronn, Hunderte von Kilometern von ihrer Heimat entfernt.
Es ist faszinierend zu sehen, wie in Laubischs Gesichtszügen der anfängliche Lebenshunger, der Stolz und auch Trotz der puren Angst weichen. Barth steht dem angedeuteten Bündnis aus Rechten und Organisierter Kriminalität ebenfalls ohnmächtig gegenüber, wenn er konstatiert: „Wir haben zu lange zugeschaut.“
Bundesanwaltschaft hält sie für „Zufallsopfer“
Auch Kiesewetters Patenonkel war Ende der 90er Jahre beim Staatsschutz, er hatte dort dienstlich mit dem rechtsradikalen „Thüringer Heimatschutz“ zu tun – jenem Verbund, aus dem das NSU-Trio um Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Jena hervorgegangen ist. Doch der Mord an Kiesewetter passt nicht in deren Muster. Beide hatten über Jahre hinweg acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer ermordet. Kiesewetter stammte aber aus Oberwiesenthal in Thüringen.
Laut Bundeskriminalamt gibt es aber keine Hinweise auf eine „wie auch immer geartete“ Vorbeziehung zwischen Kiesewetter und den mutmaßlichen Terroristen. Und auch die Bundesanwaltschaft hält Kiesewetter und ihren damals schwer verletzten Kollegen für „Zufallsopfer“ – die Terroristen hätten sie angegriffen, weil sie als Polizisten für den von ihnen verhassten Staat standen.
Regisseur: Müssen Diskurs mitbestimmen
Loose will dieses dominante Narrativ nicht akzeptieren. Mit seinem Film fordert er, die Strukturen hinter solchen Taten ernster zu nehmen. „Wenn sich rechte Strukturen zu sicher fühlen, bauen sie neue Fundamente auf und übernehmen den Diskurs», warnt er. «Wir aber sollten diesen Diskurs selbst mitbestimmen.“
Von Martin Oversohl, dpa / Redaktion DF: mw
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