Cannes-Gewinner „Titane“: Unvergessliches Extremkino

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Für „Titane“ gewann Regisseurin Julia Ducournau die Goldene Palme in Cannes. Ihr neuer Film ist eine kaum zu ertragende, aber auch radikal zärtliche Grenzerfahrung.

Mit Logik braucht man diesem Film gar nicht erst begegnen. In den vergangenen Wochen konnte man doch tatsächlich in einigen Kritiken und Diskussionen verfolgen, wie sich manche an der erzählerischen Konstruktion von „Titane“ abarbeiten und Plausibilität und Authentizität als Bewertungsmaßstäbe ansetzen. In Julia Ducournaus Film wird die Protagonistin nach ungefähr einer Viertelstunde von einem Auto geschwängert. Wer danach immer noch nicht begriffen hat, wie dieser Film funktioniert, dem ist in diesem Fall wahrscheinlich kaum noch zu helfen. „Titane“ folgt höchstens einer Albtraumlogik. Das ist ein Werk, das sich von Erzählkonventionen, überhaupt einem erzählenden Kino längst verabschiedet hat und seine ganz eigenen Regeln sucht. Es hat gar keinen Zweck, sich ausufernd mit dem Plot an sich zu befassen, dessen Bogen komplett als Modell und Versuchsanordnung funktioniert.

Julia Ducournau geht es um ein Ausloten von Leinwandgrenzen und um ein Demonstrieren. Bei ihr sprechen Körper, Raum und Klänge. Grundessenzen von Kino machen auf sich selbst aufmerksam. Dialoge braucht es kaum in diesem wahrhaft monströsen, herausfordernden Film, aus dessen audiovisueller Wucht sich immer irritierendere Diskurse um Geschlechter und Geschlechtsidentitäten herausschälen. Man kann nur staunen, wie es dieser Regisseurin gelingt, klassische Muster einer Figurenidentifikation zu umgehen, aber mit genau diesen Figuren zugleich vom Publikum regelrecht Besitz zu ergreifen.

Schmerzhafte Körperlichkeit

Jeder Schlag ins Gesicht, jedes Zustechen mit Haarnadeln und Spritzen glaubt man am eigenen Leib zu spüren. Weil es Julia Ducournau bestens beherrscht, immer den heftigsten Weg zu wählen und dann galante Twists zu finden, unerträglich nah heranzugehen, die expliziteste Einstellung aber doch nur im Kopf stattfinden zu lassen. Da muss man noch nicht einmal über die Mutationen und Verstümmelungen sprechen, die im Laufe des Films geschehen. Allein in ihrer Ausleuchtung erscheinen menschliche Körper bei Ducournau ungeheuer fleischlich, ekelhaft, aber dadurch auch fragil und schützenswert.

Bereits ihr erster Film „Raw“ hatte das gezeigt. Dort ging es um eine junge Studentin, die während der grausamen Aufnahmerituale an ihrer Universität plötzlich Hunger auf Menschenfleisch bekommt. In der Rezeption wurde das oft beschränkt auf Übelkeit, Saalflucht und Ohnmachtsanfälle im Kino. Auch bei „Titane“ war das nach dem Cannes-Sieg mitunter wieder zu vernehmen. Na klar, es kann einem übel werden bei diesen Filmen. Aber bekanntlich sagen derartige Empfindungen wenig über die Qualität der Werke aus. „Raw“ war ein vielversprechender Körperhorrorfilm, eine böse Coming-of-Age-Geschichte. „Titane“ übersteigt nun deren Qualitäten noch einmal um Längen.

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Mehrere Filme in einem

Man muss sich den Film in drei Teilen vorstellen: In einem Prolog provoziert ein Mädchen, Alexia, einen Autounfall. Kurz darauf sieht man, wie unter ihrer Schädeldecke herumgewühlt, gepuhlt und gebastelt wird. Fortan trägt sie eine Titanplatte im Kopf. Über ihrem Ohr erscheint die Narbe wie ein zweites Gehirn. Wie ein parasitäres Bewusstsein, dass da etwas Verborgenes in Leib und Seele schlummert.

Jahre später arbeitet Alexia dann als Stripperin auf Automessen. In einer langen Kamerafahrt erforscht Julia Ducournau eine ihrer Shows. Halbnackte Frauen räkeln sich auf Metall, Motoren brummen, der Soundtrack dröhnt, zwischen Mensch und Material kann kaum noch unterschieden werden. Alexia ist längst selbst von Blech und Metall erregt. Dieser überspitzte Materialismus ist natürlich als weitere Provokation zu verstehen. Fetischisierung des eigenen Makels verschwimmt mit den fetischisierenden Blicken von außen.

Monströse Schwangerschaft

Wem dieser offengelegte sexistische, männlich-heterosexuell konnotierte Kamerablick noch nicht genügt, bekommt wenig später die nächste Breitseite. Alexia sticht ihre Haarnadel in den Schädel eines übergriffigen Fans, der daraufhin Sperma aus dem Mund „blutet“. Heteronormative, sexistische und binäre Strukturen müssen in „Titane“ erst einmal radikal auseinandergenommen werden, damit sich da etwas Neues zusammensetzen kann. Damit da etwas Menschlich-Essenzielles erkannt werden kann, dem man bis dahin voller Vorbehalte und Schmerzen kaum ins Gesicht blicken konnte. Man muss das erste Drittel von Ducournaus Genremix durchaus überstehen. Das sind harte Minuten, denen man sich aussetzt.

Eine schmerzhafte Szene folgt auf die nächste, bis da alles wütend zerlegt wurde. Auch der Körper der Protagonistin, die Schere und Waschbeckenrand nutzt, um sich selbst zu deformieren und sich in einen Jungen zu verwandeln. Als solcher gerät sie in die Familie eines Feuerwehrmannes, der in ihr seinen verschwundenen Sohn zu erkennen glaubt. In finaler Konsequenz zerbricht sich da die Handlung selbst entzwei. Der Plan von Alexia scheint aufzugehen, wäre da nicht die eingangs erwähnte Schwangerschaft. Aus Brüsten und Vagina fließt dunkles Motoröl, Striemen überziehen den Körper, die Bauchdecke reißt bereits ein über dem Metallwesen, das da in Alexia heranwächst. Eine neue Familienkonstellation setzt sich zusammen.

Unbehagen der Geschlechter

Julia Ducournaus Film fußt auf allerhand prominenter feministischer und queerer Theorie von Judith Butler über Simone de Beauvoir bis Laura Mulvey und Gilles Deleuze. „Titane“ stellt seine Intellektualität aber zu keiner Sekunde aus, er lädt vielmehr ein. Man muss von den genannten Namen noch nicht einmal gehört haben, um zu verstehen, wie die Französin hier normative Identitätszuschreibungen kollabieren lässt und als Rollen enttarnt, weil ihre Auseinandersetzung allein über das Audiovisuelle geschieht. Ja, sie zeigt sogar, dass das Kino vielfach konkreter sein kann als das, was sich in Texten über Subjektivität, Leib und Körper nachlesen lässt. Ihr Film provoziert ein völliges Neudenken von Geschlecht und Begehren, das wiederum mit teils schmerzhafter Arbeit verknüpft ist. Vermeintlich Ideologisches wird plötzlich verstörend greifbar und plausibel. Identitätspolitik, die sich ihre eigene schräge Dekonstruktionsästhetik sucht.

Wie funktioniert das? Natürlich durch Verunsicherung. Durch Kippmomente; Kino kann das hervorragend. Wenn sich in „Titane“ Erotik und Tod vermischen und verkehren, die Erotik in Gewalt und Sterben mündet und sich der Tod in etwas Lustvolles verwandelt. Wenn dieser Film verschwitzte, intensive Tanzszenen zwischen Feuerwehrautos zeigt. Oder die verwandelte Alexia plötzlich gaffende Männer mit feminin konnotierten, grazilen Bewegungen mit deren latentem homoerotischen Begehren konfrontiert. Menschen verzehren sich nach Oberflächen, Material und Körperteilen, nach Gesten, die sich plötzlich neu formieren.

Hoffnungsfroher Horror

Und dann dieses Schauspiel! Von dem Muskelprotz Vincent Lindon, der sich Anabolika spritzt, um sich zur potenten Maschine zu formen. Und von der umwerfenden Agathe Rousselle, die sich so kämpferisch in die Rolle der Alexia wirft, um sich ebenfalls in einen Hybriden zu verwandeln. Irgendwo zwischen posthumanistischem Cyborg-Albtraum und Transgender-Erfahrung. Suchend nach einer Entfaltung der eigenen, vielseitigen Persönlichkeit(en). Das ist eigentlich eine Coming-Out-Geschichte, die Julia Ducournau ausbreitet. Eine, die inmitten all der Gewalt und der zerstörten Körper fortwährend zu Momenten der Liebe und Zuneigung durchdringt, die konsequent mit allen Erwartungen brechen. „Titane“ zeigt das Versteckspiel vor einer Selbstoffenbarung, dominanzkulturelle Zuschreibungen, aber auch deren Brüche.

Einen solchen Film gab es noch nicht, da kann man noch so viele Vergleiche zu David Cronenberg und Co. bemühen. Letztendlich findet Julia Ducournau doch ihre ganz eigene subversive Form und Funktionsweise. „Titane“ ist der vielleicht erste wirklich aufregende, formvollendete queerfeministische Kinofilm des 21. Jahrhunderts, bei dem man sich sofort sicher wähnt, dass man dieses Werk auch noch in vielen Jahren studieren wird. Wer weiß, vielleicht bietet Ducournau künftig eine Art Kino-Pendant zu den Extrem-Shows, die die österreichische Choreografin Florentina Holzinger (inzwischen Hausregisseurin an der Berliner Volksbühne) in den vergangenen Jahren in Theatern inszeniert hat. Am Ende dieses Genrefilms steht eine hässliche, aber auch sakral aufgeladene, eine heilige Geburt von Hoffnung. Geboren wird ein neues Verständnis der eigenen Persönlichkeit. Und es wird eine Utopie von Akzeptanz geboren, die vielleicht ein Denken in Schubladen überwindet. So, wie sich auch „Titane“ jeder Schublade verweigert.

„Titane“ läuft seit dem 7. Oktober 2021 in den deutschen Kinos. Julia Ducournaus Langfilmdebüt „Raw“ ist auf DVD, Blu-ray und als VoD erhältlich.

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Bildquelle:

  • titaneplakat: Koch Films

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