„Die stillen Trabanten“: Einer der besten deutschen Filme 2022

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Albrecht Schuch und Lilith Stangenberg
Foto: Warner Bros.

Thomas Stuber und Clemens Meyer begleiten in ihrem Ensemble-Drama „Die stillen Trabanten“ gesellschaftliche Außenseiter durch melancholische Leipziger Nächte.

Man hat lange kein so stimmungsvolles und verzweigtes Großstadt-Porträt im Kino erleben können. Und schon gar keines, das die Stadt Leipzig so atmosphärisch in Szene setzt. „Die stillen Trabanten“ ist ein Film der violett gefärbten, zwielichtigen Himmel, der verschwimmenden Lichter, die nachts die Straßen fluten, der blinkenden Windräder und hellen Fenster am Horizont, die nach und nach ausgehen. Ein Film der verrauchten Bahnhofskneipen, der baufälligen Imbissbuden und Wohnungen, der verlassenen Ruinen.

In einer Kaserne auf ehemaligem DDR-Grund laden die Geister zum Tanz. Der rote Stern verrostet am Tor. Musik von damals liegt noch in der Luft. Was früher einmal war, spukt noch durch die Köpfe. Von den Umbrüchen der Vergangenheit hat man sich nie erholt, die neuen Umstände bieten keine Hilfe, keine Perspektive mehr. Und frühere Träume verglimmen wie die entfernten Lichter bei Nacht.

Man kennt diese Geschichten aus den preisgekrönten Romanen und Erzählungen von Clemens Meyer und man kennt sie aus den Filmen und Serien (das Sky-Format „Hausen“) des Regisseurs Thomas Stuber. Beide haben sich nach starken Werken wie „Herbert“, „In den Gängen“ oder auch dem „Tatort: Angriff auf Wache 08“ erneut zusammengetan, um ein herausragendes Kinodrama auf die Beine zu stellen.

Foto: Warner Bros.

„Die stillen Trabanten“ basiert auf dem Erzählband von Clemens Meyer

„Die stillen Trabanten“ ist ein Reigen übersehener Biographien: eine Reinigungskraft, ein Burger-Griller, ein Wachmann. Stuber macht proletarisches Kino, das unvoreingenommen lauscht, Licht und Schatten beeindruckend zu vereinen weiß (im wörtlichen Sinne). Ganz unverblümt blickt es auf die Alltäglichkeiten derer, die das System im Stich gelassen hat und im Stich lässt, ohne eine sentimentale Betroffenheitserzählung daraus zu stricken. Dafür bleibt viel zu viel unausgesprochen und ambivalent, die Schale zu hart, auch wenn wir ihr nach und nach beim Aufbrechen zusehen können.

Begegnungen zwischen Menschen fördern hier exotisierende Vorurteile, aber auch ein Verlangen nach Nähe zu Tage. Es giert danach, wenigstens in der einengenden Peripherie Verbündete zu finden, wo sonst schon niemand mehr hinsieht. In ihr Innerstes haben sie sich zurückgezogen: mit allen Sehnsüchten, erotischen Gelüsten, Ängsten, Ressentiments, schwelenden Traumata, die nie aufgearbeitet wurden. Da ist Christa, die nachts Züge der Bahn vom Müll befreit und beim Weinbrand eine Vertraute findet. Da ist der Imbissbesitzer Jens, der sich nach der Begegnung mit seiner Nachbarin plötzlich mit dem Islam beschäftigt. Und der Wachmann Erik, der seine Runden um eine Unterkunft für Geflüchtete dreht und sich in eine junge Bewohnerin verguckt.

Prominent besetzt mit Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Peter Kurth und Co.

Drei Erzählungen aus Clemens Meyers Band „Die stillen Trabanten“ sind das, die sich nun auf der Leinwand durchkreuzen, überlagern, einander befragen. Ein vierter, verstörender Text über eine gefundene Kinderleiche, der im Buch nur etwa zwei Seiten umfasst, ist als Prolog vorangestellt und vereint sich später mit einem der anderen Stränge. Eine Schar prominenter Schauspielerinnen und Schauspieler leiht diesen Geschichten ihr Gesicht: Charly Hübner ist dabei, Albrecht Schuch, Nastassja Kinski, Andreas Döhler, Martina Gedeck, Lilith Stangenberg. In den Nebenrollen taucht etwa Peter Kurth auf.

Alle dürfen sie glänzen, weil „Die stillen Trabanten“ seinem Publikum Leerstellen zumutet, die den Charakteren umso mehr Facetten verleihen, sie umso interessanter erscheinen lassen. Das mag hier und da etwas konfus zwischen den einzelnen Episoden changieren. Nicht alles mag gleichermaßen Wucht und Raffinesse in der Dramaturgie entfalten. Und doch beweist Thomas Stuber gerade in diesen abrupten Szenenwechseln ein Gespür für das Pointierte, grob Skizzierte, auch das Uneindeutige, Unzuverlässige der Meyer’schen Vorlage.

Sein Film ist getrübt von den Stimmungen der Nacht. Dann, wenn die Gedanken plötzlich zu schweifen beginnen, das Innerste nach oben dringt, die Wahrnehmung schon nicht mehr ganz bei sich ist und die Augen in diesen bezaubernd eingefangenen Eindrücken übergehen. Wer ruft denn da an auf dem Telefon? War da gerade wirklich jemand, was hat das Gegenüber gesagt, wo beginnt die eigene Projektion? Was lauert im Dunkeln, wo die Laternen keine Strahlen werfen? Von jetzt auf gleich sind wir woanders, ein Gespür für Tag und Nacht ist in der Gleichförmigkeit der Routinen schon verlorengegangen.

Poetisch-realistisches Erzählen

Es gibt aktuell wahrscheinlich keinen anderen Filmemacher neben Thomas Stuber, gerade in Deutschland, der so faszinierend einen nüchternen Realismus mit dem Unbewussten, mit einer verblüffenden Poetizität zusammenführen kann. „Die stillen Trabanten“ ist ein Erzählen über und mit urbanen Räume, Orten des begrenzten Verweilens, über den fragmentarischen Schnitt, der sich, ausschlagend in alle Richtungen, zu einem kollektiven Gedächtnis, einer größeren Perspektive wandelt.

Das ist hochpolitisches, zärtliches wie unerbittliches Kino im Gewand eines psychologischen Dramas, eine nüchterne Beobachtung in Gestalt formensprachlicher Sinnbilder. Ein reifes und komplexes, gekonnt widersprüchliches Annähern an ostdeutsche Lebenswirklichkeiten, die dennoch ins Universelle streben. Es gab in diesem Jahr schon einen grandiosen Kinofilm aus Deutschland: die Rollenspiel-Tragikomödie „Axiom“. Und nun gibt es „Die stillen Trabanten“, der sich ebenso im Bewusstsein einnistet und nicht mehr gehen will.

„Die stillen Trabanten“ läuft ab dem 1. Dezember 2022 in den deutschen Kinos.

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