„Die Nachbarn von oben“: Diese alte sexuelle Verlogenheit

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Mann und Frau im Türrahmen in
Foto: Wild Bunch Germany, 2023

Die Schweizer Komödie „Die Nachbarn von oben“ lädt zum feucht-fröhlichen Ehekrach in den heimischen vier Wänden. Wie liberal sind die Vorstellungen von Liebe und Sexualität wirklich?

Mietwohnungen können eine unheimliche Angelegenheit sein. Man hat sich ein Stück in der Welt gesichert, Raum zu eigen gemacht, seinen Platz zementiert. Verdrängend, in der illusorischen Abgrenzung nur ein kleiner Teil im großen Gefüge zu sein. Und dieses macht auf sich aufmerksam! Durch Fenstergläser, aus verborgenen Winkeln heraus beobachtet man sich einander, verfolgt misstrauisch das Handeln der Fremden. Hin und wieder sind die anderen nur akustisch zu vernehmen. Geräusche sprechen und poltern dem Wunschtraum der Exklusivität, des Alleinseins ins Gewissen. Thomas und Anna (Roeland Wiesnekker und Ursina Lardi), die Protagonisten von „Die Nachbarn von oben“, haben genug davon!

Für die beiden wird es in der Mitte ihres Lebens unerträglich, dass da noch jemand außer ihnen ist. Schlimmer: Dass da jemand ist, der womöglich das besitzt und lebt, was man selbst nicht hat. Ihre neu eingezogenen, attraktiven Obermieter (Sarah Spale und Max Simonischek), eine Psychologin und ein Feuerwehrmann, treiben es wild. Ihr lautstarker Sex ist selbst in der Wohnung von Anna und Thomas zu hören, doch damit soll jetzt Schluss sein. Ein gemeinsamer Kennenlernabend in der Wohnung des genervten Paares soll endlich für Konfrontation sorgen und wieder Ruhe im Haus einziehen lassen. Doch dann kommen die Neuen mit einem überraschenden sexuellen Angebot um die Ecke.

Szene aus "Die Nachbarn von oben"
Foto: Wild Bunch Germany 2023

„Die Nachbarn von oben“ steckt viele deutsche Komödien in die Tasche

Alexander Seibt hat diesen Film geschrieben und eine spanische Vorlage adaptiert, Sabine Boss („Ernstfall in Havanna“) die Regie geführt. „Die Nachbarn von oben“ ist dabei ein Film, der zunächst diverse unbehagliche Déjà-vus auslöst. Schließlich erinnert seine Konstellation eines krachenden Pärchenabends nur zu gut an all die unzähligen altbackenen Konfektionsfilme wie „Der Vorname“, „Der Nachname“, „Das perfekte Geheimnis“ oder auch den Geschlechterkampf „Caveman“, in Deutschland vorwiegend und teils äußerst publikumswirksam von Constantin Film herausgebracht.

Doch weit gefehlt: „Die Nachbarn von oben“ ist in dieser Reihe artverwandter Titel der stärkste und im Grunde genommen erste sehenswerte seit langer Zeit. Er ist finsterer, konsequenter, bissiger gegenüber seinen Figuren, ohne dafür boshafte und reaktionäre Schenkelklopfer und Zoten verwenden zu müssen, wie es etwa der Kassenschlager „Das perfekte Geheimnis“ getan hat.

Foto: Wild Bunch Germany 2023

Über bürgerliche Doppelmoral

Ihm fehlt es, zugegeben, noch an Stil, diesem Film, und an formaler Radikalität, die die Sektion einer spießbürgerlichen Ehe nicht nur mit verbalem Schlagabtausch und handfesten Streitigkeiten vollziehen, sondern auch in eine interessante Medialität übersetzen würde. Dafür verharrt Sabine Boss‘ Komödie zu bequem in konventionellen Schuss-Gegenschuss-Dialogen in der Enge der Wohnung – Aufnahmen, wie man sie auch aus jedem gewöhnlichen Fernsehdramolett kennt. Dafür gelingt „Die Nachbarn von oben“ ein umso dichterer Fokus auf seine Figuren, die nicht nur als bloße Hüllen für ein paar küchenpsychologische Auslegungen herhalten müssen, sondern den Blick auf ideologische Grundlagen freigeben.

Dieses Vier-Personen-Leinwandstück führt sehr geschickt und sehr gewitzt die (sexuelle) Verlogenheit bürgerlicher Ehe-Ideale vor. Schritt für Schritt bohrt es in der Unzufriedenheit, die sich einstellt, hat man das monogame Korsett der Liebe des Lebens erst einmal als vermeintlich naturgegebene Norm verinnerlicht. Man inszeniert sich nach außen hin liberal, offen, enthemmt, neugierig, sexuell aktiv, auch im fortgeschrittenen Alter, das entlarven die stetig eskalierenden Dialoge gnadenlos, während man gleichzeitig über Jahre hinweg verpasst hat, über Bedürfnisse zu sprechen, sich auszuprobieren, Grenzen zu überschreiten.

Schließlich: sich überhaupt erst einmal mit sich selbst zu beschäftigen. Weil sich die westliche bürgerliche Norm über Jahrhunderte hinweg eine Mäßigung und Zügelung auferlegt hat, nicht zuletzt zugunsten einer Arbeits- und Wirtschaftsrealität. Sie sinniert zwar von freier Liebe als Label und Präsentation, hat sich aber von der unterbewusst brodelnden, puritanischen Gleichsetzung von Sexualität und reiner Fortpflanzung kaum verabschiedet.

Foto: Wild Bunch Germany

Das letzte Wagnis fehlt

Von Sünde mag in „Die Nachbarn von oben“ explizit keine Rede sein, aber ist ihr altes, eingesickertes Konzept nicht immer noch wirksam? Sie führt wiederum in das trügerische, zähmende Ideal der Familie. „Die Nachbarn von oben“ hilft dabei, diese ewige, angestaubte Doppelmoral und zermürbende Prüderie in Gestalt eines Unterhaltungsfilms zu erkennen und zu reflektieren. Zwischen Gemeinheiten, Verführung, aphrodisierenden Gerichten und dem ein oder anderen Schlückchen Alkohol lösen sich Beziehungsbande, wird die Gegenüberstellung zweier Paare zur Lehrstunde in Sachen Selbsterkenntnis.

Der Film mag dabei nicht den letzten Schritt gehen: Gerade der letzte Akt dieser bis dahin durchaus unbequemen Komödie, umgarnt sein Publikum allzu gefällig und zieht es wieder zurück an Land einer Versöhnlichkeit, die ihre zuvor geschlagenen Wunden nicht so recht auszuhalten vermag. „Trennung“ kommt den Figuren eigentlich erstaunlich früh im Film über die Lippen. Unaufhaltsam steuert das Kammerspiel auf diesen bedrohlichen Begriff als erste Zäsur zu, aber ist damit wirklich alles gesagt? Denn auch eine Trennung will erst einmal gelernt, ihre Gründe erforscht, Lösungen erarbeitet werden. So naiv das alles aufgelöst sein mag: Es ist ein großer Spaß, dieser kriselnden Paartherapie beizuwohnen.

„Die Nachbarn von oben“ läuft seit dem 1. Juni 2023 im Verleih von Wild Bunch Germany in den deutschen Kinos.

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