„Zeit Verbrechen“: Streitbares True-Crime-Experiment – Paramount+ Start abgesagt

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Lars Eidinger in
Lars Eidinger in "Zeit Verbrechen: Der Panther" Foto: Viacom International

Die vierteilige Anthologie „Zeit Verbrechen“ wirft unterschiedliche Blicke auf das True-Crime-Genre. Nach der Berlinale-Premiere und dem gestrichenen Paramount+ Start ist die Serie quasi obdachlos.

Im ersten Teil dieser Anthologie-Serie kann es einem eiskalt den Rücken herunterlaufen. Im doppelten Sinne: „Dezember“, so heißt die erste Episode, ist ein ungeheuer eindringlich eingefangener Horrorfilm, eine verfilmte Urangst. Zugleich fragt man sich bei dieser unbändigen Lust am Schrecklichen, ob die Verantwortlichen jemals die zahlreichen Diskussionen über das True-Crime-Genre, also das Nacherzählen realer Verbrechen, in den vergangenen Jahren verfolgt haben. So ganz auf der Höhe der Zeit erscheint diese Podcast-Verfilmung nämlich nur bedingt.

Verschiedene filmische Arbeiten haben sich zuletzt an Experimenten, Selbstreflexionen und Brüchen in diesem Metier versucht, darunter Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon„, Gisèle Viennes „Jerk“ oder auch Ali Abbasis „Holy Spider„. In „Dezember“, inszeniert von Mariko Minoguchi, rettet man sich gerade so auf die Spitze eines in die Höhe ragenden Zeigefingers, um sich selbst auf eine höhere Ebene zu heben. An Zivilcourage und Mitleid wird dort appelliert, wenn ein junger, zugedröhnter Mann nach einer Party nicht mehr nach Hause findet und von allen nur abgewiesen wird, inklusive der Polizei. Am Ende wird er in dieser Nacht sein Ende finden.

Nächtlicher Horror in "Zeit Verbrechen: Dezember"
Horror auf der Landstraße in „Zeit Verbrechen: Dezember“ Foto: Viacom International

„Zeit Verbrechen“ beginnt mit einem intensiven, aber geschmacklosen Horrorfilm

Menschliches Verhalten zu untersuchen, das angesichts von Ängsten und Vorbehalten gegenüber diesem vermeintlichen Eindringling und der Sorge um den eigenen Besitz eine dringend benötigte Hilfe verweigert, ist per se keine schlechte Idee. Die Kritik an der Arbeit der Polizei und Rettungssanitäter ist ebenfalls ein interessanter Ansatz. In diesem ersten Teil von „Zeit Verbrechen“ mutet diese Untersuchung, die in ewigen Schuldgefühlen gipfeln soll, allerdings eher wie ein Vorwand und eine halbgare Standpauke an.

In Wirklichkeit dreht sich „Dezember“ voll und ganz darum, eine Angstlust des Publikums zu befriedigen, allein angesichts der Form, die er wählt. Minoguchi arbeitet mit langen Plansequenzen. Ihr Film sieht aus, als wäre er fast komplett in einer durchlaufenden Einstellung gedreht, die hier jedoch, so wirkt es jedenfalls, allein für ein Mittendrin-Gefühl, eine effektivere Zeugenschaft genutzt wird.

Nähe bis in den Tod

Der ganze Anfang geht als Nachklapp zu den Filmen Gaspar Noés durch: Namen und Logos flackern dort psychedelisch bunt im Vorspann wie in „Enter the Void„. Wenn der Protagonist Tim benommen durch die Gänge eines lauten Clubs torkelt und sich die Kamera auf den Kopf stellt, denkt man sofort an Noés Tanz-Horror „Climax„. Danach geht es raus auf die Straße, bis das Publikum mit Tim gemeinsam im Stockdunkeln auf einsamer Landstraße ausharren darf. Hat sich da gerade etwas bewegt? Was war das für ein Geräusch?

„Dezember“ schlachtet die reale Katastrophe eines jungen Mannes rein nachahmend aus, damit sich das Publikum gepflegt gruseln und nach schlichter Immersion gieren kann, die bis in den Moment des Todes hinein nicht abreißen will. So intensiv, packend, schaurig diese Dokumentation einer Verirrung und Furcht, das eigene Zuhause plötzlich nicht mehr zu finden, eingefangen ist, so geschmacklos zeigt sich ihre ästhetische Ausgestaltung.

Feiernde Jugend-Clique in "Zeit Verbrechen: Deine Brüder"
Szenen einer Jugend in „Zeit Verbrechen: Deine Brüder“

Vier reale Kriminalfälle

Zum Glück gehen die übrigen drei Episoden reflektierter damit um, was zum Teil auch der geschickteren Auswahl ihrer Kriminalfälle geschuldet ist. Sie bieten sich schon eher dazu an, sie in etwas Filmisches zu verwandeln, das über das reine Wiederholen eines Traumas hinausreicht. „Zeit Verbrechen“ basiert auf einzelnen Ausgaben des True-Crime-Podcasts der „Zeit“. Neben Mariko Minoguchi haben Jan Bonny, Faraz Shariat und Helene Hegemann die Regie übernommen. Alle finden sie unterschiedliche Ästhetiken und Zugriffe.

So erzählt Shariat in „Love by Proxy“ die Geschichte eines Internetbetrugs zwischen überzeichneten Thrillerformeln und Einsamkeitsdrama. Hegemann beleuchtet in „Deine Brüder“ einen Mordfall unter Jugendlichen als Gerichtsdrama: Ein junger Mann hat immer wieder mit brutalen Ausrastern zu kämpfen, bis die Situation in seiner Clique eskaliert. Nun wird der Fall verhandelt, der in mitreißend inszenierten Rückblenden in Jugenddynamiken eintaucht und in seiner Suche nach dem Wahren doch den entscheidenden Moment mit einem diskreten wie klug verwirrenden Kniff im Uneindeutigen belässt.

Lars Eidinger in "Zeit Verbrechen: Der Panther"
Lars Eidinger in „Der Panther“ Foto: Viacom International

Lars Eidinger völlig enthemmt in „Der Panther“

Die exzentrische zweite Episode mit dem Titel „Der Panther“ hingegen präsentiert sich als knallharte Milieustudie. Lars Eidinger darf in diesem Film von Jan Bonny mal wieder die Sau rauslassen. Sein Bühnen-Hamlet und Bühnen-Richard sowie Anleihen bei Batmans Joker verschmelzen hier zur überdrehten, aber packenden Performance. Eidinger verwandelt jede einzelne Szene in einen Kraftakt. Sein Panther ist ein Krimineller, der auf alles, den Staat, die Behörden, sein soziales Umfeld pfeift und sich damit eine brandgefährliche Parallelwelt errichtet, in der er der König ist, bis ihm die Kontrolle entgleitet.

Sensationslüstern ist auch dieser Film. Reißerisch wühlt „Der Panther“ in Kotze, Dreck und tristen Buden der Unterwelt, in der von Überfällen, Mord, Drogen und Prostitution alles zu finden ist. Immer wieder entlädt sich dieser Tanz Eidingers auf der Rasierklinge in brachialen Gewaltausbrüchen, die wackelige Kamera hält rastlos drauf. Sie findet keine Ruhe – wie ihr Protagonist, der alle Blicke auf sich zieht.

Szene aus "Zeit Verbrechen: Love by Proxy"
„Zeit Verbrechen: Love by Proxy“ erzählt von einem dreisten Betrug. Foto: Viacom International

„Zeit Verbrechen“ sucht eine neue Heimat

Die vier Episoden von „Zeit Verbrechen“ weisen letztlich alles auf: die Möglichkeiten, reale Verbrechen als Inspiration zu nehmen, um sie zu transformieren und etwas Größeres, Irritierendes aus ihnen herauszufiltern. Oder dabei in die Fallen einer Krimi-Spektakel-Kultur tappen, die seit vielen Jahren auf Kritik stoßen und sich mit eher vagen Begründen ihren eigenen Voyeurismus zu beschönigen versuchen.

Bis das Publikum ein eigenes Urteil über dieses streitbare Format fällen kann, dürfte allerdings noch etwas Zeit vergehen. Nachdem die Weltpremiere im Rahmen der 74. Berlinale in der Panorama-Sektion gefeiert wurde, sucht „Zeit Verbrechen“ nämlich immer noch nach einer neuen Heimat in TV, Kino oder Streaming. Das Format gehört zu den angekündigten deutschen Originals, die die Plattform Paramount+ kurzerhand aus Spargründen abgesagt hat, wie vor einigen Wochen bekannt wurde. Wann und wo „Zeit Verbrechen“ nun erscheinen wird, ist noch nicht bekannt, wie die betreuende Presseagentur gegenüber DIGITAL FERNSEHEN bestätigte.

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