„Small Things Like These“: Die 74. Berlinale beginnt mit Grabesstimmung

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Cillian Murphy auf der Straße in
Cillian Murphy in "Small Things Like These" Foto: Shane O'Connor

Die 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin wurden am Donnerstag mit dem schwermütigen Drama „Small Things Like These“ eröffnet. Eine große Bühne für Hauptdarsteller Cillian Murphy.

Cillian Murphy, aktuell Oscar-nominiert als „Oppenheimer“, fährt in diesem Film eindrucksvolle schauspielerische Tricks und Kniffe auf. Er schafft es, „Small Things Like These“ einmal mehr allein mit seinem nuanciert auf die Welt schauenden, mal nachdenklichen, mal betrübten und zutiefst gequälten Blicken eine Tragik und Tiefe zu verleihen, die das Drehbuch eigentlich zu keiner Minute wirklich zu fassen bekommt.

Wenn Murphys Figur, der Kohlenhändler Bill Furlong, nachts aufsteht, um das vorbeiziehende Menschentheater auf der Straße vor dem Haus zu beobachten und nur kleine, schimmernde Lichtstreifen sein Gesicht erhellen, dann füllen innere Leere und emotionale Erschöpfung in seinen Augen in Großaufnahme die Leinwand. Wenn er das bedrohlich in Szene gesetzte Kloster in seiner irischen Heimatstadt besucht, dann gesellen sich Unruhe, Frust und Ängstlichkeit hinzu. Da brodelt es in seinen gehetzten Gedanken, die in jeder Minute verzweifelter abwägen, was es zu tun gilt, was zu tun möglich ist, um die Welt ein klein wenig erträglicher zu gestalten.

Was Murphy im Nonverbalen vermag – und er spricht über die anderthalb Stunden dieses Films tatsächlich nur wenige Dialogzeilen – ist höchst beachtlich. Eine von Drehbuch und Regie so oberflächlich ausgearbeitete Figur (und oberflächlich ist der ganze Film) mit einem solchen Leben und ablesbaren, äußerlich studierbaren Konflikten mit sich selbst und der Umwelt aufzufüllen, verdient nicht weniger Hochachtung als seine ungleich prominentere Leistung in Christopher Nolans Atombomben-Blockbuster.

Erhobener Zeigefinger für ein politisches Festival

Cillian Murphy ist es zudem, der von „Small Things Like These“ noch am ehesten im Gedächtnis bleiben wird. Ansonsten handelt es sich um ein weitgehend konventionell gestricktes Drama, mit denen die Berlinale gern ihre Festivalausgaben eröffnet. Ein Publikumsfilm soll das sein, hochkarätig besetzt, neben Murphy spielen unter anderem Michelle Fairley („Game of Thrones„) und Emily Watson („Chernobyl“). Die Hollywood-Stars Ben Affleck und Matt Damon gehören zu den Produzenten. Schaulaufen auf dem Roten Teppich am Potsdamer Platz. Ein schwieriges, brisantes Thema sowie eine wichtige Botschaft gibt es obendrauf. Die Berlinale liebt solche Filme. Schließlich bindet man das Label „politisches Filmfestival“ jedes Jahr erneut der Öffentlichkeit auf die Nase, als seien andere Festivals weniger politisch. Politisches Kino meint im Falle von „Small Things Like These“ allerdings weniger ein interessantes Spiel mit dem Medium, sondern den plakativen symbolischen Zeigefinger.

In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Claire Keegan wird die Geschichte einer erwachenden Zivilcourage im Jahr 1985 erzählt. Bill Furlong bemerkt aus den Augenwinkeln immer wieder, wie junge Frauen in dem Kloster malträtiert werden, dem er schwere Kohlesäcke anliefert. Nonnen führen die Einrichtung und Besserungsanstalt für gesellschaftlich ausgestoßene, geächtete Frauen mit militärischer Strenge. Der Film will an reale Missbrauchsverhältnisse in den sogenannten Magdalenenheimen erinnern. Als sich eine der Frauen an Bill wendet und ihn anfleht, sie zu befreien, gerät der schweigsame, mit seiner eigenen Vergangenheit kämpfende Arbeiter ins Grübeln. Seine Ehefrau, sein ganzes Umfeld rät ihn zum Wegsehen. Schlafende Hunde soll und will man nicht wecken in dieser Welt, die von fundamentalistischer Gewalt durchdrungen ist.

Auf der heimischen Couch ist man froh, dass nicht die eigenen Kinder unmittelbar von ihr betroffen sind. So besänftigt man sich mit dem Gefühl, dass es anderen noch schlechter geht als einem selbst. Doch Bill lässt die Ungerechtigkeit keine Ruhe. Wenn er im belebten Pub von Betrunkenen und Feierlustigen umringt ist, steht er nur teilnahmslos und ins Nichts starrend da. Quälend sind seine Gedanken und lassen den gewohnten Alltag plötzlich nichtig erscheinen. Dass er selbst ein hartes, prekäres Leben führt, spielt dabei schnell keine Rolle mehr.

„Small Things“ eröffnet die 74. Berlinale mit trübseligen Bildern

„Small Things Like These“ ist dabei ungemein vage konstruiert. Was offenbar universell und abstrahierend erdacht wurde, erhält eine zäh anmutende Beliebigkeit, weil alles nur auf das Vorführen einer solidarischen, guten Geste zugespitzt ist. Über das Spezifische, die genaueren Hintergründe zu den gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse, gerade an dem zentralen Schauplatz des Übels, erfährt man als Zuschauer reichlich wenig. Jeder Schrecken kann in der stark subjektivierten Form und verengten Erzählperspektive nur beiläufig erhascht werden. Er bleibt auf das Gröbste beschränkt.

Wo dieser Film den Weg zum Guten weisen will, hat sich indes längst alles verdunkelt. Regisseur Tim Mielants („Peaky Blinders“) taucht die einzelnen Szenen in tiefe Schwermütigkeit und inszeniert äußerst finstere Bilder. Krähen krächzen, eine Kirchenglocke läutet in der Ferne. Das grobe Filmkorn trübt die Sicht zusätzlich. In den Außenaufnahmen sieht es aus, als würde sich ein dichter Nieselregen permanent über die Figuren ergießen. Der graue Himmel des Beginns wird später von der Schwärze der Nacht abgelöst. Die Kleinstadt als Friedhof. Sobald Bill das Kloster betritt, verdichten sich die Aufnahmen beinahe zum Horrorfilm. Da heult der Wind durch die labyrinthischen Gänge. Nonnen treten als furchteinflößende, zwielichtige Gestalten auf, deren Ordnung sich der Protagonist zu widersetzen versucht. Zwischen ästhetischem Konzept und menschlichem Handeln tut sich somit fortwährend ein Spannungsverhältnis auf, welches der Film selbst in seinen anrührenden Lichtblicken nicht auflösen kann.

Optimismus in Krisenzeiten?

Für ein Werk, das das Gute, Rebellische beschwört, könnte die Verzweiflung an der Welt formal kaum größer sein, als gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mehr, im Großen, also abseits der kleinen Dinge und Bestrebungen, die der Titel verspricht, grundlegend etwas zu ändern. Keine optimistische Note für den Beginn dieser 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin! Wenngleich ihre triste Atmosphäre visuell durchaus elegante Kompositionen zu bieten hat. „Small Things Like These“ ist im Rahmen des Festivals der erste Aufschlag, um den diversen Krisenstimmungen in der Welt zu begegnen und nach dem Widerständigen oder Eigensinnigen zu suchen, sich an neuen Formen zu probieren, oder aber sich in völligem Konformismus zu genügen. In den kommenden Tagen folgen neue Werke von unter anderem Andreas Dresen, Alonso Ruizpalacios, Mati Diop, Hong Sangsoo, Veronika Franz und Severin Fiala und vielen anderen, die Kino in seinen unterschiedlichsten Formen repräsentieren und feiern sollen.

Vielleicht passt so ein düsteres, lähmendes, höchstens zaghaft optimistisches Werk wie „Small Things Like These“ ebenso zur starren, von Konflikten gebeutelten Situation, in der sich die Berlinale selbst gerade befindet. Von Sparmaßnahmen über das fragwürdige, viel diskutierte Ende der Doppelspitze des Festivals bis zu Vorwürfen mangelnder Haltungen und dem jüngsten Eklat um die Ein- und spätere Ausladung von AfD-Politikern wuchs zuletzt die Liste an Streitpunkten. Die Filmfestspiele sind unter Rechtfertigungsdruck geraten, auch in seiner gesamten Struktur, Positionierung und Rolle auf der Bühne des Weltkinos, schon vor den aktuellen Skandalen. In ihren Ungewissheiten und wahrnehmbaren Unsicherheiten bleiben sie sich zumindest in einer Tradition treu: Dass das Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ausgerechnet zum Auftakt ihrer letzten Berlinale künstlerisch kein Experiment mehr wagen würde, war wohl abzusehen.

„Small Things Like These“ feierte im Rahmen des Wettbewerbs der 74. Berlinale als Eröffnungsfilm des Festivals seine Weltpremiere. Ein regulärer Start im Kino oder Heimkino ist noch nicht bekannt.

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