
Wirklich? So war’s damals bei den RAF-Terroristen im Stammheimer Gefängnis? Ein Dokudrama zeigt, was sich abgespielt hat vor 50 Jahren während des Terror-Prozesses. Oder abgespielt haben könnte.
Stammheim ist ein Ort, der Geschichte atmet. Der Name des Stuttgarter Stadtteils steht stellvertretend für einen Betonklotz als Gefängnis, für einen Prozess und für einen Schatten, der sich vor 50 Jahren über die Republik legte. Den Jahrestag des Prozessauftaktes gegen das Führungsquartett der linksterroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) greift ein neues Doku-Drama der ARD auf. Die Opfer verliert der Sender dabei dennoch nicht aus dem Blick.
„Stammheim – Zeit des Terrors“ rekonstruiert den Alltag der Häftlinge im legendär gewordenen siebten Stock des Gefängnisses und zeigt das Geschehen auf der öffentlichen Bühne im benachbarten Gerichtssaal. Zu sehen ist der Film am Montag (19. Mai) um 20.15 Uhr im Ersten und vorab in der ARD Mediathek.
15.000 Seiten Protokolle
In 90 Minuten lässt die Produktion eine der angespanntesten Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte lebendig werden. Und einen Prozess der Superlative: zahllose Tonbänder, 15.000 Seiten mit Wortprotokollen und seltenes Archivmaterial machen ihn zu einem der am besten dokumentierten in der Geschichte – und Stammheim zum identitätsstiftenden Ort der RAF.

Anlässlich des 50. Jahrestages des Stammheim-Prozesses im Mai 2025 liefert das Dokudrama einen ungewöhnlichen Einblick in die Lebenswelt der ersten Generation der RAF, als sie in Stuttgart vor Gericht stand. Foto: SWR / Hendrik Heiden
„Wahrscheinlich hatte die RAF nie mehr Wirkmächtigkeit als in der Zeit, in der die vier angeklagten Köpfe der Gruppe im siebten Stock inhaftiert waren“, sagt Regisseur Niki Stein, der gemeinsam mit Stefan Aust auch das „Stammheim“-Drehbuch geschrieben hat.
Im Zentrum des Dokudramas stehen nicht nur die Angeklagten – Ulrike Meinhof sowie Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die nach zwei Jahren voller juristischer Scharmützel im April 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Auch das politische Klima der 1970er Jahre, das Sicherheitsdenken und der überforderte Rechtsstaat spielen eine Rolle. „Der Film zeigt die Ideologie und die Blindheit, die Paranoia, die auf beiden Seiten geherrscht hat“, sagt Ensslin-Darstellerin Lilith Stangenberg. „Bei den Terroristen ebenso wie beim Staat.“
Blindheit und Paranoia auf beiden Seiten
Gedreht unter anderem in den Original-Zellen verbindet Regisseur Niki Stein Spielszenen mit dokumentarischem Material. Vieles wirkt wie ein Kammerspiel, der gemeinsame Ausgang der RAF-Protagonisten etwa, die Treffen im Flur zwischen den Zellen. Es werde kein „So war es“ vorgegaukelt, sondern ein „So könnte es gewesen sein“, basierend auf historischem Material und auf Zeitzeugenberichten, sagt Stein.
Das Drama wird auch durch die Augen von Horst Bubeck (zurückhaltend und souverän: Moritz Führmann) erlebt, der als Vollzugsbeamter im Zellentrakt den intensivsten Kontakt zu den Inhaftierten hat. Und es wird ergänzt von Szenen aus dem Untersuchungsausschuss von 1977/1978, in dem die Ereignisse im Zellentrakt der JVA bis zur „Todesnacht in Stammheim“ analysiert wurden. Originalaufnahmen aus Prozess und Ausschuss werden dabei mit Inszenierungen verwoben.
Dabei gelingt es „Stammheim“, mehr zu sein als nur eine historische Nacherzählung. Das Drama bietet eine sorgfältig inszenierte, atmosphärisch dichte und journalistisch fundierte Auseinandersetzung mit einem düsteren Kapitel der Bundesrepublik.
Tochter von RAF-Opfer: „Wir haben das lebenslang“
Anlässlich des 50. Jahrestages des Stammheim-Prozesses widmet sich eine weitere Dokumentation der ARD ebenfalls am 19. Mai der Familien der oft auch weniger prominenten RAF-Opfer („Im Schatten der Mörder – Die unbekannten Opfer der RAF“, Das Erste/21.45 Uhr). Der Sohn eines niederländischen Polizeibeamten, die Tochter eines Fahrers oder der Nachkomme eines Diplomaten – sie kehren zurück an ihre Schicksals- und Erinnerungsorte, sie öffnen für die Doku ihre Fotoalben.
Und sie zeigen, dass der Schatten des Terrors bis in die Gegenwart reicht. „Ich merke im Alter, dass es schlimmer wird, auch diese Sehnsucht, auch wenn das so viele Jahre schon her ist. Wir haben das lebenslang“, sagt Sabine Reichelt. Ihr Vater Georg Wurster, Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft, starb im Kugelhagel beim Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Bubach 1977 in Karlsruhe.
Von Martin Oversohl, dpa
Redaktion DF: mw
Außerdem interessant: