Netflix und Jugendmedienschutz: Ohne Eltern geht nichts

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Bild: © Victoria - Fotolia.com
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Kritiker der umstrittenen Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ fürchten, die Geschichte um den Suizid einer Teenagerin könnte einen Nachahmereffekt haben. Cornelia Holsten, Vorsitzende der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), erklärt im Interview, was sie an der

Es gibt von vielen Seiten Kritik an der Serie „Tote Mädchen lügen nicht?“. Wie ernst nehmen Sie das?
 
Cornelia Holsten: Das Faszinierende an der Kritik ist, dass „Tote Mädchen lügen nicht“ seit Jahren als Schullektüre in der Mittelstufe gelesen wird, ohne dass das je zu einem Aufschrei geführt hätte über diesen Roman. Das zeigt, dass Bewegtbild immer viel viel wirkmächtiger ist. Es ist interessant, das zu sehen, wenn man einen Schritt zurückgeht und von draußen draufschaut und sich fragt, was geht da eigentlich ab. Dann finde ich total interessant, dass es jetzt diesen Aufschrei gibt und zum Beispiel nicht beim Start der vierten Staffel von „Breaking Bad“. Da könnte man sicher auch viele Fragen in Richtung Jugendmedienschutz stellen. Dazu fallen mir auch noch viele andere Serien ein. Und ausgerechnet hier ist das ein so großes Thema.
 
Woran liegt das?
 
Ich glaube, dass das Tabuthema Suizid sich noch mehr für eine öffentliche Diskussion eignet als beispielsweise die Produktion von Chrystal Meth bei „Breaking Bad“. Es ist ein Thema, bei dem man so wahnsinnig gerne Patentrezepte hätte, wie man damit umgehen soll. Wir haben als KJM leider durchaus häufiger mit dem Thema Suizid oder Suizidanleitungen in entsprechenden Foren zu tun, die oft sehr schrecklich und extrem gefährlich sind, weil sie den Suizid als etwas Erstrebenswertes und Ehrenhaftes darstellen.

Wie ist die Serie im Vergleich dazu, sehen Sie das ähnlich problematisch?
 
Zu der Serie gab es bisher kein KJM-Prüfverfahren. Aber es gab bisher auch keine einzige Beschwerde zu dieser Netflixserie. Das steht sehr im Widerspruch zum medialen Aufschrei. Wenn wir zum Beispiel eine Anleitung zum Suizid in der Serie gesehen hätten, hätten wir schon anders reagiert. Was ich getan habe, ist, Kontakt mit der niederländischen Medienaufsichtsbehörde aufzunehmen, wie Netflix sich hier positioniert, die haben ihren Europasitz in Holland. Da wurde bislang bestätigt, dass Netflix ein großes Interesse am Nutzerschutz hat. Sie haben auch die letzten drei Folgen mit einem zusätzlichen Warnhinweis versehen. Und man muss das Thema auch anders sehen, als wenn es im Fernsehen laufen würde.
 
Warum eigentlich?
 
Sie haben hier die Situation, dass der On-Demand-Anbieter im Ausland sitzt, und er nutzt eine Kindersicherung, einen Pin, so dass die Verantwortung in erster Linie bei den Eltern liegt, die den Pin an ihre Kinder weitergeben. Ich halte es für wichtig, den Eltern zu sagen, wenn ihr das macht und eure Kinder sind noch jung, dann ist das so, wie dem Kind im Auto zu sagen „Du musst dich nicht anschnallen“.
 
Die Eltern geben den Kindern den Pin vermutlich ein Mal und wissen dann oft gar nicht, dass die dann „Tote Mädchen lügen nicht“ gucken. 
 
Ja, und das ist wirklich leichtsinnig. Wenn Eltern nicht mehr wissen, womit sich die Pubertisten gerade befassen. Und wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der Pubertät ohnehin eine erhöhte Suizidneigung besteht, dann muss man sehr wach sein als Eltern. Und wenn man diese Risiken nicht eingehen will und die Serien nicht sehen will, darf man den Pin eben nicht weitergeben. Kinder- und Jugendschutz macht Mühe. Den besten Schutz als Eltern habe ich, wenn man Mediennutzung zusammen trainiert. Bei dieser Serie ist das besonders relevant.
 
Die Serie hat in Deutschland kein Altersfreigabe, wie es sie von der FSK geben würde, wenn es zum Beispiel ein Kinofilm wäre.
 
Der Hauptgrund, warum sie bei uns keine Altersgrenze hat, ist, dass es sich um einen Streaming-Anbieter handelt, der seinen Sitz zudem im Ausland hat. Viele ausländische Streamingdienste übernehmen tatsächlich bereits die Altersfreigaben der FSK, aber nur für eingekaufte Formate, nicht für Eigenproduktionen. Darum wäre es eigentlich am besten, Netflix würde sich der passenden Selbstkontrolleinrichtung anschließen, das wäre hier die FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter). Dass Netflix den Sitz im Ausland hat, steht dem nicht entgegen.
 
Ist die Wahrnehmung der Serie in der Öffentlichkeit überzogen?
 
Für uns ist dieser öffentliche Diskurs total wertvoll, weil er uns zeigt, wie verschieden Öffentlichkeit reagiert, je nachdem, ob es um Print geht oder Bewegtbild und weil dadurch klar wird, dass auch die Eltern ein ganzes Stück Verantwortung mittragen. Es gibt durchaus Formate, da ist die moralische Empörung groß, und man weiß, da ist nichts dran. Das ist hier nicht so, hier gucken wir schon genau hin, das Thema nehmen wir sehr ernst.
 
Cornelia Holsten, geboren 1970, ist Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt und seit April Vorsitzende der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Davor war sie Richterin am Amts- und am Landgericht Bremen, wo sie ab 2007 den stellvertretenden Vorsitz einer Zivilkammer für Urheber-, Presse- und IT-Recht inne hatte. Von 1999 bis 2002 hat sie Unternehmen als Rechtsanwältin für Wirtschafts- Medien- sowie IT-Recht vertreten.[Interview: Andreas Heimann]

Das Interview gibt die Meinung des Interviewpartners wieder. Diese muss nicht der Meinung des Verlages entsprechen. Für die Aussagen des Interviewpartners wird keine Haftung übernommen.

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12 Kommentare im Forum

  1. Die Frau scheint ja mal direkt vernünftig zu sein . Ich beziehe mich nur grundsätzlich auf den Inhalt ihrer Aussagen, die Serie interessiert mich eigentlich nicht.
  2. Die Frage ist ja auch von wem dieser "Aufschrei" kommt?! Mit Sicherheit nur von Leuten die das Buch nicht gelesen haben oder von Leuten die nur auf sich Aufmerksam machen wollen. Normal ist es ja eigentlich so das ein Buch viel mehr Eindrücke hinterlässt wie ein Film/Serie, denn da entsteht nun mal "Kopfkino".
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