„Alcarràs – Die letzte Ernte“: Ausgezeichnetes Drama über ein zerfallendes Familienerbe

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In ihrem Berlinale-Gewinnerfilm „Alcarràs“ erzählt Carla Simón von der Verdrängung einer traditionsreichen Farmerfamilie.

Es ist ein letztes Aufbäumen, das Carla Simón in ihrem Preisträgerfilm zeigt. Ein letztes Mal plustert sich die sonnengeflutete Welt von „Alcarràs“ auf, während ihr längst die Luft entweicht. Erst schleichend, aber doch von Beginn an spürbar, später immer schneller – bis zu einem radikalen Endpunkt. Mit Laiendarstellerinnen und -darstellern sowie autobiographischen Erfahrungen hat Simón eine üppig ausgebreitete Familienchronik in Szene gesetzt, die zwischen Tradition und Aufbruch nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch das gegenwärtige Miteinander neu befragen muss.

Seit 80 Jahren bewirtschaftet die Familie Solé eine Pfirsichplantage im ländlichen Alcarràs, doch jetzt naht die untertitelgebende letzte Ernte. Ein Solarpark soll auf den Ländereien gebaut werden, weshalb das altehrwürdige Familiengeschäft mit allen Gepflogenheiten dem Untergang geweiht ist. Zwei Stunden lang verfolgt Simóns Film den Alltag der Großfamilie, zeigt Aufruhr und Andächtiges, heftet sich immer wieder an andere Charaktere. Er verfolgt die Kinder beim nichtsahnenden Spielen, die Jugendlichen, die ihren eigenen Kopf entwickeln, die streitenden Eltern, den Großvater, der umsorgt werden muss. Bei der Berlinale 2022 gab es dafür den Goldenen Bären.

Zwischen Dokumentar- und Spielfilm

„Alcarràs“ gibt dem Publikum einen Hauch von purem Leben, der in solchen Familiendramen gern gesucht wird. In denen alles irgendwie echt und ungestellt wirken soll, bis man am besten gar vergisst, dass hier bewusst vorgeführte Ausschnitte zum Erscheinen gebracht, arrangiert, gespielt, manipuliert werden. Simóns Film gelingt diese Illusion recht eindrucksvoll. Ihr dokumentarisch anmutender, beobachtender Stil taucht in Räume ein, die vom Alltag gezeichnet sind, in denen sich überall Spuren vergangener Zeiten finden lassen. In denen alles etwas rustikal wirkt, die Schranktüren wohlig knarzen.

Das Spiel ihres Laien-Ensembles lässt an konstruierte, einstudierte Rollen nicht denken. Vielmehr scheint die Kamera als Observatorin in ihr Leben gebrochen zu sein, um allein vorgefundene Rollen in ihrem Dasein vor das Publikum zu führen. Natürlich handelt es sich dabei im mehrfachen Sinne um eine Falle, denn es ist mitnichten so, dass „Alcarràs“ allein eine Lust am Authentischen und Ungeschönten bedienen würde. Mit Nostalgie und Eskapismus ist hier niemandem geholfen – weder dem Publikum noch den Figuren, das arbeitet Carla Simón eindrucksvoll heraus. Die Versenkung in ihre Welt benutzt die Regisseurin, um das Sehen der Feinheiten und Brüche zu schulen.

Dramaturgie des Lebens

Das Dokumentarische ihres Familiendramas verlangt einiges an Mitleidenschaft von den Zuschauerinnen und Zuschauern. Denn so ist es nun mal im „echten“ Leben: Da folgt wenig der Dramaturgie reißerischer Filmdrehbücher, da fließt so manches einfach vor sich hin. „Alcarràs“ erfordert damit eine Bereitschaft, auf jedes noch so unscheinbare Detail zu achten, denn hier erzählen in erster Linie das Inventar, der einnehmende filmische (Klang-)Raum, seine Körper.

All das verdichtet sich in seinen Pointen und Krisen (manchmal etwas zu) gemächlich und bedacht zu einem Stimmungsbild. Da ist kein klassischer Spannungsbogen zu finden, an den man sich im dramatischen Kino gewöhnt hat. So deutlich die grundlegende Auseinandersetzung zu Beginn offenbart wird, so verzweigt verfolgt sie ihre Details und Ambivalenzen.

Keine einfachen Antworten

Die große Stärke von Simóns Film besteht indes darin, dass sie kein simples Parteiergreifen provoziert. Ihre Geschichte handelt nicht allein von einer kämpferischen, geeinten Familie, die das Alte gegen das Neue verteidigen würde. Stattdessen ist alles ein wenig differenzierter, spalten sich die Akteurinnen und Akteure wiederum in ihre eigenen Parteien auf und so brodelt es auch innerhalb des engsten Kreises. Soll man an der körperlich anstrengenden, schlecht bezahlten Landwirtschaft festhalten oder sich an neuen, zukünftigen Jobs versuchen? Verrät man damit die eigene Identität, das Bestehende? Welche Pläne verfolgt die heranwachsende Generation? Ist man bereit, für den Fortschritt das Familienerbe aufzugeben?

In der Gleichzeitigkeit all der verfolgten Handlungsstränge und Figurenschicksale entfaltet „Alcarràs“ eine passende Erzählform für diesen Konflikt. Seine Fragestellungen werden die Filmfamilie überdauern, deren Schicksal sich so unaufdringlich melancholisch ins Offene verflüchtigt. Da liegt eine zärtliche Unerbittlichkeit in dem einprägsamen Schluss, den die Regisseurin gewählt hat, um diesen Sommer, dieses Eintauchen mit Haut und Haar in einen Kosmos abreißen zu lassen.

„Alcarràs – Die letzte Ernte“ läuft ab dem 11. August 2022 in den deutschen Kinos. Weitere Informationen findet man auf der Seite des Verleihs.

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Bildquelle:

  • alcarras: LluísTudela

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