„Aus meiner Haut“: So clever kann deutsches Kino sein

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Thomas Wodianka in
Foto: AMH_WALKER WORM_XVERLEIH

Alex und Dimitrij Schaad haben mit ihrem eigensinnigen Spielfilm „Aus meiner Haut“ ein radikales Körpertausch-Experiment erdacht.

Etwas ist faul auf der Insel. Menschen in wallenden Gewändern streifen da umher, vollführen sonderbare Übungen auf der Wiese. Weißgekleidete Männer ziehen einen leblosen Frauenkörper durchs Gewässer. Ein monolithischer Turm ragt irgendwo empor. Was in ihm Mysteriöses geschieht, weiß man nicht genau. Regisseur Alex Schaad weiß offensichtlich um die Genretraditionen, die er mit solchen Eindrücken zitiert. Ari Asters Sektenhorror „Midsommar“ ist nur eine offensichtliche Referenz.

Die Filmbranche liebt solche Szenarien und Schauplätze. Gerade abgeschottete Inseln bieten schließlich eine gute Möglichkeit, um Gegenwelten zu kreieren, Modellversuche durchzuführen. Umgeben von Wildnis und rauen Elementen. Mühen muss man auf sich nehmen, um dorthin zu gelangen, und noch größere Mühen, um wieder zurückzukehren. Grundlegende Ordnungen können dort befragt und verkehrt werden, man denke nur an Werke wie „Wicker Man“, „The Third Day“ oder jüngst „The Menu“ und „Glass Onion“.

„Aus meiner Haut“, den Alex Schaad gemeinsam mit seinem Bruder Dimitrij („Die Känguru Verschwörung“) geschrieben hat, geht dabei einen klugen Weg. Er zitiert offenherzig und markiert sich selbst als Genrekino, aber kopiert nicht einfach. Das hat er zahlreichen anderen deutschen Filmen voraus, die irgendwann entschließen, sich auch einmal an Horror, Sci-Fi oder Fantasy zu versuchen. Die Schads entziehen sich fortwährend dem Sensationellen, Überzeichneten des Genrekinos. Es dient nur als Anstoß für ein lange Zeit unaufgeregtes Gedankenexperiment, das auf ganz wunderbare Weise unser (Selbst-)Bewusstsein erschüttern kann.

Foto: AMH_WALKER WORM_XVERLEIH

In „Aus meiner Haut“ werden Körper und Identitäten gewechselt

Mala Emde und Jonas Dassler spielen Leyla und Tristan. Das junge Paar reist auf eine Insel, auf der Menschen ihren Alltag im mehrfachen Sinne hinter sich lassen können. Es ist der Traum vom Tourismus: nur ein Mal aus der eigenen Haut fahren, einen Neustart wagen, sich für begrenzte Zeit in das Fremde versetzen, um sich hinterher neu spüren zu können. Leyla und Tristan treffen an diesem Ort auf Leylas Jugendfreundin Stella. Doch Stella sieht aus wie ein älterer Mann, gespielt von Edgar Selge. An dieser Stelle wird es kompliziert, zu beschreiben, was in „Aus meiner Haut“ überhaupt geschieht.

Transzendenz, eine Out-of-Body-Erfahrung hat man auf besagter Insel in ein Geschäftsmodell verwandelt. Angebetet wird keine himmlische Sphäre, sondern das eigene entgrenzte Bewusstsein. Mit Meditation, Tauchbad und Ritualen verlässt der Geist den Körper – „Aus meiner Haut“ nimmt diese Idee beim Wort. Leyla und Tristan tauschen als soziales Experiment ihre Körper mit einem anderen Paar (Dimitrij Schaad und Maryam Zaree). Und dann beginnen die Probleme.

Ein Thriller könnte sich da anschließen oder tatsächlich ein waschechter Horrorfilm über Eifersucht, Verrat, das gewaltsame Vergehen an anderen Menschen. Doch „Aus meiner Haut“ lockert und löst, zerteilt sein Muster aus Konventionen und Anleihen. Schad inszeniert ein Charakterdrama ohne Charaktere, eine immer verwirrendere Beziehungskrise, in der Kategorien von Körper, Leib, Identität, Geschlecht, Sexualität konsequent ins Wanken geraten.

Ritualszene "Aus meiner Haut"
Foto: AMH_WALKER WORM_XVERLEIH

Eine Herausforderung für die menschliche Wahrnehmung

„Aus meiner Haut“ mag dabei formal recht konventionell anmuten. Er klebt häufig etwas einfallslos im Schuss und Gegenschuss an seinen Gesichtern, bis da mal etwas Interessantes versucht wird, um diese Welt einzufangen. Und doch handelt es sich um einen äußerst radikalen Film, der seinem Publikum einiges zumutet. Annahmen, die uns menschliche Abbilder sonst auf der Leinwand erlauben und suggerieren, verschieben sich hier permanent. Es ist eine Herausforderung, sich ihnen zu nähern, weil sie uns zeigen, wie leicht unsere Wahrnehmung von Menschen hinters Licht geführt werden kann.

Wer ist da, der in der sicht- und berührbaren Hülle namens Körper lauert? Ist mit dieser wiederholten Trennung von Körper und Seele, Gefäß und Inhalt nicht schon der erste Trugschluss gesetzt? Alex und Dimitrij Schaad verwandeln anthropologisches Grübeln in mitreißendes Kino. Sie übersetzen hochkomplexe Fragestellungen in sinnliches Spiel. Selbstverständlich kann es keine abschließenden Antworten liefern, aber zur produktiven Unsicherheit verführen.

„Aus meiner Haut“ lässt zahllose Leerstellen und Brüche zu. Eingeblendete Namen markieren lose abgetrennte Kapitel. Hinter dem Namen der Figur steht in Klammern jeweils die eigentliche Identität, die nun in diese Persona, diese Körpermaskerade geschlüpft ist. Die ordnende Funktion dieser projizierten Schrift – Weiß auf Schwarz – steht jedoch selbst nach kurzer Zeit auf dem Prüfstand. Sollten wir diesen Buchstaben überhaupt trauen?

Foto: AMH_Walker Worm_ XVerleih

Was begehren wir?

Spätestens dann, wenn es um das Sexuelle, um das Begehren geht, gelingen „Aus meiner Haut“ fabelhafte Kippmomente. Denn: Was begehrt der Mensch denn nun eigentlich? Einen Körper und dessen Merkmale? Das, was sich vermeintlich in seinem Innern verbirgt, aber niemals als eigene Entität verstanden werden kann? Wie wäre es, einmal mit sich selbst Sex zu haben? Innen und Außen, der Leib und sein Umfeld, werden hier noch einmal ins Schwingen, Wandern und Formen versetzt.

Homo- und Heterosexualität werden plötzlich als soziale Konstruktionen erkennbar, ihre Trennlinien verschwimmen. Geschlecht geht immer mit bestimmten Handlungen, Gesten, Inszenierungen einher, die sich der neu zusammengesetzte Mensch erst aneignet und einstudiert. Aber was, wenn das gesamte Verhaltensinventar auf einmal in eine andere Äußerlichkeit gekleidet wird? Wenn das Ich plötzlich mit fremder Stimme spricht? Was, wenn der Partner oder die Partnerin nun in einem Körper des jeweils anders gelesenen Geschlechts steckt? Hat die Lust dann noch Bestand?

Jonas Dassler und Mala Emde in "Aus meiner Haut"
Foto: AMH_Walker Worm_XVerleih

„Aus meiner Haut“ befragt sein eigenes Schauspiel

Nicht zuletzt ist „Aus meiner Haut“ damit ein zutiefst suggestiver, vielschichtiger Film über Schauspielerei. Menschen spielen Menschen, die sich wiederum die Persönlichkeit anderer Menschen einverleiben. Persönliche Züge werden hinter einer Äußerlichkeit zum Verschwinden gebracht, um andere zum Vorschein zu bringen. Was braucht es dazu überhaupt, damit eine solche Illusion gelingt? Kein Wunder, dass all die Doppelbesetzungen immer wieder für steifes Gebaren, gestelztes Sprechen sorgen! Das mag einer gewissen Unbeholfenheit beim Schreiben geschuldet sein, fügt sich aber passend dem offengelegten und vorgeführten Austesten und Erlernen einer anderen Vorstellung von Identität.

Die Schaad-Brüder lassen ihr Publikum nicht nur beim Entstehen von Rollen, sondern auch beim Entstehen ihres Spiels zusehen. „Aus meiner Haut“ ist einer der seltenen Filme, die das als Norm akzeptierte psychologische Darstellen noch einmal mit einer Irritation versehen können. Es existiert im Werden, noch nicht ganz fertig, es probiert sich noch aus, schießt vielleicht über das Ziel hinaus, verrät sich selbst. Und doch ist es ein Kunststück, dass man sich irgendwie mit diesen multiplen Charakteren identifizieren, sich einfühlen kann. Weil wir es eigentlich lieben, gerade beim Schauspiel vom Äußeren auf das Innere zu schließen, der vermeintlichen Übereinkunft von beidem zuzusehen. Ein Glück: Ab und an macht uns ein solcher Film einen Strich durch die Rechnung dieser Erwartungshaltung.

„Aus meiner Haut“ läuft seit dem 2. Februar 2023 in den deutschen Kinos. Bei seiner Weltpremiere in Venedig 2022 wurde der Film mit dem Queer Lion ausgezeichnet.

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