„Das Lehrerzimmer“: Hochspannendes Drama über die Abgründe des Schulsystems

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Leonie Benesch in
Foto: Alamode Film/ Judith Kaufmann

Die ZDF/Arte-Koproduktion „Das Lehrerzimmer“ stellt anhand einer Eskalation an einer Schule elementare Fragen über Widerstand und Anpassung.

Die Lehrerin tritt wie eine Dirigentin vor ihre Klasse. Auf der Tonspur werden noch Instrumente gestimmt, jetzt steht sie da und hebt die Arme. Es kann beginnen. Ilker Çatak inszeniert seine Protagonistin Carla zu Beginn des Films noch in einem Moment der Kontrolle, doch im Hintergrund sieht alles ganz anders aus. Der Alltag ist zur Zerreißprobe geworden. Ein akustisches Zupfen und Streichen treibt die Figuren von „Das Lehrerzimmer“ hinein in den Stress. Gleich in der ersten Szene ist Carla am Telefonieren, da klopft es schon an der Tür, der nächste Termin steht an. Geld wurde gestohlen, die Schule ist in Aufruhr und versucht mit Mühe und Not, die Ordnung zu wahren.

Die Schulleiterin (Anne-Kathrin Gummich) erinnert an die Nulltoleranzpolitik. Jedes Vergehen wird ergründet und geahndet. Das schließt auch fragwürdige Methoden ein. Man setzt Schülerinnen und Schüler unter Druck, lädt sie zu regelrechten Verhören ein. Alles unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit natürlich! Ilker Çatak und Johannes Duncker haben damit ein meisterhaftes Drehbuch entwickelt. „Das Lehrerzimmer“ schont nichts und niemanden, weder seine Figuren noch sein Publikum. Es ist ein wahrer Kraftakt, sich diesem Film auszusetzen, der allerdings in jeder Sekunde lohnt, so mitreißend und spannend ist er geraten.

Leonie Benesch brilliert in „Das Lehrerzimmer“

Çataks Regiearbeit zieht einen bereits in ihren klaustrophobischen, nervösen Bann, da weiß man noch nicht einmal, wovon sein Film nun eigentlich handeln soll. Sie studiert kleinste zwischenmenschliche Regungen mit ungeheurer Intensität. Die Kamera von Judith Kaufmann heftet sich dabei eng an die Protagonistin, studiert einen immer explosiver werdenden Kontrollverlust. Leonie Benesch („Babylon Berlin„) spielt diesen Kollaps mit Meisterklasse.

Der einstudierte autoritäre Gestus, das Bemühen um Empathie, Diplomatie, Standhaftigkeit, aber auch der durchbrechende Frust, wachsende Hilflosigkeit, oft alles im selben Moment – es ist eine der packendsten schauspielerischen Leistungen, die man in diesem Jahr bislang auf der Kinoleinwand sehen konnte. Da erkennt eine Figur auf einmal, dass ihre Ideale mit dem Feindbild zusammenfallen. Irgendwann hilft nur noch ein gemeinsamer Schrei, um nicht vollends zu verzweifeln.

Leonie Benesch in "Das Lehrerzimmer"
Foto: Alamode Film/ Judith Kaufmann

Räume der Macht

„Ein Beweis braucht immer eine Herleitung“, erklärt Carla ihrer Klasse im Unterricht. Bewiesen werden soll in diesem Film zunächst einmal eine Schuld. Als sich an der Schule kein Täter für die Diebstähle finden lässt, stellt Carla eine Webcam im Lehrerzimmer auf. Wenig später der Schock: Sie beobachtet in der Aufzeichnung, wie ein Arm Geld aus ihrer Jacke entwendet. Anhand des Kleidungsstücks deuten alle Hinweise auf die Sekretärin, die gute Seele des Hauses. Und damit beginnt eine Eskalationsspirale, in der bald Lehrer und Lehrer, Lehrer und Eltern, Schüler und Lehrer aufeinander losgehen.

„Das Lehrerzimmer“ ist dabei nicht interessiert, eine Kriminalgeschichte zu erzählen, die allein Detektiv spielen würde, um ihren rätselhaften Fall aufzulösen. Stattdessen erkunden Ilker Çatak und Johannes Duncker die Grenzen und Fallstricke von Recht und Gerechtigkeit, ihre Manifestation und ihre Grenzen im Mikrokosmos Schule. Wie „Das Lehrerzimmer“ mit dessen Räumen spielt – das Durchwandeln der Gänge, das Durchschreiten der voneinander abgeschirmten Büros, Blicke durch Glasscheiben, die permanente Gleichzeitigkeit von Öffentlichem und Privatem – ist schlichtweg sensationell.

Ilker Çatak inszeniert sie in kühlen blaugrauen Farbtönen, im beengten 4:3-Format. Fast scheint es so, als würde das Vordringen in jeden Bereich neue Schichten und unbequeme Fragen offenlegen, immer neue Zentren von Macht erkunden, nur um mit jedem Schritt wieder zurückgeworfen und ins Reflektieren versetzt zu werden. Besagte Macht präsentiert sich selbst mit gutem Willen, doch wann wird er zu Gewalt?

Foto: Alamode Film/ Judith Kaufmann

„Das Lehrerzimmer“ erkundet die Eigendynamik einer Eskalation

Welchen Einfluss haben Lehrer auf Schüler, welchen Einfluss dürfen sie haben, wie darf und sollte diszipliniert werden? Als die Schülerzeitung irgendwann bohrende Fragen stellt und das veröffentlicht, was bislang hinter verschlossenen Türen geregelt werden sollte, will die Institution die Verbreitung untersagen. So schnell geht das mit der Zensur! Was alle angeht, soll hier permanent vor der Öffentlichkeit abgeschirmt werden. Das Ergebnis: Es bilden sich immer neue Bündnisse und Parallelgemeinschaften, die fortwährend in Konflikt geraten und einander die Schuld zuschieben wollen.

Eine der Ausgangsfragen für die Entwicklung des Films soll gewesen sein, wie schnell wir dabei sind, Leute zu verurteilen und Situationen eskalieren zu lassen, erklärte der Regisseur im Rahmen der Leipziger Filmpremiere. Herausragend ist das Drehbuch von Çatak und Duncker auch deshalb, weil es in diesem Zusammenhang kaum eine Parteiergreifung zulässt, sondern in jeder Szene seine Sympathien und Grautöne neu akzentuiert und verschiebt.

Jenseits des Klassenzimmers

„Das Lehrerzimmer“ entwickelt sich von der Sozialstudie unaufhaltsam zu einer Widerstandsgeschichte, gespickt mit Elementen des Thriller-Genres. Ein ganzes System scheint plötzlich nicht mehr zu funktionieren und droht, an den eigenen Regeln und Vorstellungen kaputtzugehen. Hat es dieses Scheitern in seiner jetzigen Form nicht sogar verdient? Schule als Ort der Bildung, aber auch der ideologischen Disziplinierung und Anpassung an den gesellschaftliche Status quo verstrickt sich hier im eigenen Regelwerk. In einer Szene wird über das Anschreiben des Notenspiegels an die Tafel diskutiert. Ein erbarmungsloses Konkurrenzdenken hat sich in den Köpfen der Heranwachsenden längst eingenistet, einige halten zum Glück dagegen.

„Das Lehrerzimmer“ verlässt seinen Schauplatz letztlich nur in einer kurzen Szene. Die Probleme, die es dort im Rahmen des Schulsystems zu sehen gibt, haben jedoch längst alle Wände aufgesprengt, strömen in die Welt hinaus und kommen wieder zurück. Sie spiegeln im selben Moment Strukturen des gesellschaftlichen Miteinanders und lassen das Publikum bei ihrem Entstehen, Selbsterneuern und Normieren zusehen. Im ausufernden Konflikt lässt er grundlegende Prozesse hinterfragen und deutlicher sehen, ohne simple Lösungen in Aussicht zu stellen. Ein herausragender, verstörender Film!

„Das Lehrerzimmer“ feierte seine Weltpremiere im Rahmen der 73. Berlinale und läuft ab dem 4. Mai 2023 in den deutschen Kinos. Ein Heimkinostart auf DVD soll im Oktober erfolgen.

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