Jetzt im Kino: Oscar-gekrönter Alkohol-Exzess und Märtyrer-Verehrung

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Zu den prominentesten Kino-Neustarts in dieser Woche gehört Thomas Vinterbergs Oscar-prämierter Alkohol-Exzess „Der Rausch“ mit Mads Mikkelsen.

Sich jeden Tag die Welt einfach schöntrinken – eine verlockende Vorstellung in den vergangenen Monaten voller Sorgen und Stillstand. In Thomas Vinterbergs Oscar-Erfolg „Der Rausch“ wird sie Realität, vorgeführt an einer Gruppe Lehrer, die das irrwitzige Selbstexperiment auf sich nehmen. Gestresst von ihren Rollen als Familienväter, Ehemänner und Lehrer, die als Sündenböcke für den Frust der Eltern ihrer Schützlinge herhalten müssen. Gemeinsam beschließen sie nun, ihren Promillewert im Alltag konstant bei 0,5 zu halten, um die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Das Kino wird zum Versuchslabor, der Alkoholpegel erscheint immer wieder als Zahlenspielerei auf der Leinwand, drohend auf den ultimativen Absturz zusteuernd.

Es ist ein sicherer Programmkino-Hit, den Vinterberg („Das Fest“) da gedreht hat. Zügellos und provokativ in seinem Stoff, konservativ und menschelnd genug, um nicht allzu abschreckend zu wirken. Publikumsmagnet Mads Mikkelsen in der, zugegeben, famos gespielten, Hauptrolle. Unterhaltungskino mit abgründigen Zwischentönen. Der Oscar-Sieg als Bester Internationaler Film und der Europäische Filmpreis sind die Kirschen obendrauf.

Foto: Henrik Ohsten/ 2020 Zentropa Entertainments 3ApS, Zentropa Sweden AB, Topkapi Films B.V. & Zentropa Netherlands B.V.

Zwischen Freudentaumel und Absturz

Tatsächlich überzeugt „Der Rausch“ insbesondere in seinen ersten beiden Akten mit Momenten irritierender Heiterkeit. Das ist eine kleine, selbstzerstörerische Revolutionsgeschichte, die Vinterberg da erzählt, die ihre Tropen der Sauf- und Buddy-Komödie einerseits als eine Art Schelmenstück verkauft, um dann in der zweiten Hälfte ihr dunkles Spiegelbild als gekonntes Schauspielkino heraufzubeschwören. Aber ist damit nun wirklich etwas Produktives anzufangen? Das ist die Frage, die man sich bei all den teils berechtigten, teils aber auch überschätzenden Lobeshymnen fragen sollte.

Es ist kompliziert, unsere Beziehung zum Alkohol, das exerziert Vinterberg knapp zwei Stunden lang durch. Letztendlich ist da zu viel sicheres Terrain für die ultimative Verunsicherung. Da sind diese eher abgegriffenen Bilder von Drogenabstürzen; letztendlich sind es vor allem die eher uninteressanten privaten Probleme, die da am Küchentisch verhandelt werden müssen. Aber gut, was soll auch passieren? Das ist die eigene Ausnüchterung, die man hier durchlebt ob der ständigen Mischung aus Raffinesse, Unentschlossenheit und Belanglosigkeit. Wenn man ehrlich ist: Außer einer eindrucksvollen Tanzszene bleibt einige Zeit später auch nicht allzu viel hängen von diesem Rausch, von dieser, im Kern, Männlichkeitskrise.

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Ärgerliches B-Kino mit „Infidel“

Unter den Neustarts dürfte der dänische Oscar-Gewinner in dieser Woche zumindest das größte Publikum anlocken. Aus Hollywood kommt nur mäßig interessante Konkurrenz. „In The Heights“ gibt es da zu sehen, basierend auf dem gefeierten Broadway-Musical von „Hamilton“-Schöpfer Lin-Manuel Miranda über das Leben im Viertel Washington Heights. Das ist klassischstes American-Dream-Kino, zelebriert in knalligen Farben und großen Massen-Choreographien. Gesungene und getanzte Utopie im Umbruch.

„Infidel“ tummelt sich zudem noch unter den Neustarts. Der Film des Amerikaners Cyrus Nowrasteh ist, das muss man leider so knallhart sagen, ein Ausfall in dieser Kinowoche. In dem Thriller erzählt er die Leidensgeschichte des Bloggers Doug, der im Fernsehen das Christentum predigt und daraufhin von radikalen Islamisten entführt wird. „Infidel“ will damit den Fokus lenken auf die Verfolgung von Christen im Nahen Osten. Dieses Vorhaben mag seine Dringlichkeit haben, aber nicht, wenn man diese schwierige Thematik für solch unverblümten, konservativsten Kitsch missbraucht.

Mit differenziertem Politkino hat das wenig zu tun, „Infidel“ beschränkt bewusst seine Perspektive auf ein Passionsspiel, besetzt mit dem selbst streng katholischen Jim Caviezel, dem Jesus aus Mel Gibsons „Passion Christi“. Der gläubige Amerikaner und seine kämpferische Frau, die sich gegen die muslimische Welt auflehnen, die wir im Film fast ausschließlich als zwielichtige Gefahren- und Schattenwelt kennenlernen. Eine Weltsicht, die so eingeengt erscheint wie die Gefängnisräume in die der Entführte gezerrt wird und sich mit seinem feindlichen Gegenüber auseinandersetzen muss.

Letztendlich: minimales inszenatorisches Gespür für das Einmaleins des Kidnapping-Thrillers, jede Menge Trash, Stereotype, ein völlig konfuses Actionfinale obendrein. Das ist manipulatives Märtyrer-Kino über den vermeintlich guten und den bösen Glauben, dem es an Fingerspitzengefühl für den Umgang mit einem solch komplexen Stoff fehlt.

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Ab dem 22. Juli im Kino

  • Der Rausch
  • In the Heights
  • Infidel
  • Spirit – Frei und Ungezähmt
  • Die Olchis – Willkommen in Schmuddelfing
  • Da scheiden sich die Geister
  • Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen
  • Wir alle. Das Dorf
  • Gaza Mon Amour
  • Glück
  • Anmaßung
  • Gasmann
  • Roamers – Follow Your Likes
  • Orphea

Bildquelle:

  • derrausch: 2020 Weltkino

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