„Poor Things“ gewinnt Goldenen Löwen in Venedig: Frankensteins Monster und der Sex

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Emma Stone und Mark Ruffalo in
Foto: 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.

„Poor Things“ wurde bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Demnächst kommt die drastische Fantasy-Groteske mit Emma Stone in die Kinos. 

Das Kino des Griechen Yorgos Lanthimos ist eines der Scham. Man will sich in sich zurückziehen, die Hände vor die Augen halten, sich im Kinosessel winden. Figuren gibt es dort zu sehen, die sich anders verhalten, als es unsere gewohnten Normen im Alltag vorgeben. In seinem bis heute radikalsten Werk “Dogtooth” wurde beispielsweise das Leben einer abgeschotteten Familie begleitet, die Wörter und Begriffe des Alltäglichen neu besetzt, Sprache in ihrer willkürlichen Bezeichnung einfach neu durcheinanderwürfelt, inszestuösen Sex betreibt, brutale Bestrafungen vornimmt. Der Patriarch entwirft die Regeln. 

Lanthimos verstört mit solchen Narrativen nicht einfach nur für den sensationellen Schock, sondern um die Konstruktionen und Mechanismen unseres Miteinanders zu dekonstruieren. Er ist ein Meister des Grotesken, also des Zusammensetzens und Kombinierens von augenscheinlich unvereinbaren, widersprüchlichen Dingen. Auch “Poor Things”, sein neuer Film arbeitet mit diesem Prinzip. Es könnte, glaubt man der Euphorie, die im Rahmen der Premiere in Venedig jüngst zu vernehmen war, sein bislang größter Erfolg werden. Er gilt schon jetzt als heißer Oscar-Anwärter im kommenden Jahr. Am Samstagabend wurde der Film mit dem Goldenen Löwen der Biennale, dem Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet.

Willem Dafoe in Schwarz-Weiß in "Poor Things"
Foto: 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved

Emma Stone spielt eine künstliche Frau in „Poor Things“

„Poor Things“ zeigt Tiere mit vertauschten Köpfen, Hirntransplantationen, die das Bewusstsein des einen Körpers in einen anderen verpflanzen. Willem Dafoe spielt einen gottgleichen (Godwin sein Name) Wissenschaftler, der obskure Menschenexperimente vollführt. Seine künstlich zusammengesetzte Visage lässt kaum noch unterscheiden, ob man es hier mit Dr. Frankenstein oder dessen Monster zu tun hat. Am Esstisch ist er an seltsame Schläuche und Flüssigkeiten angeschlossen. Zum Abschluss einer jeden Mahlzeit rülpst er eine Seifenblase in die Luft. 

Man weiß am Anfang des Films kaum, was man hier zu sehen bekommt und es geht lange so weiter. Bella, seine Ziehtochter, gleicht einem Maschinenmenschen. Sie verhält sich wie ein Kind im Körper einer Erwachsenen und recht schnell erfährt man, welches abgründige Geheimnis sich hinter diesem Verhalten verbirgt. Emma Stone begeistert in dieser Rolle mit ihrem körperlichen, selbstentfremdeten Spiel, verblüffenden Bewegungen und Gestikulationen. 

Die innere Sau rauslassen

Leben und Tod, Anstand und Sittenlosigkeit, Distanz und Intimität – das sind austauschbare Kategorien. Und so ist es selbstverständlich, dass Bella zum Spielen mit einem Skalpell auf eine Leiche einsticht oder eine Kröte aus Spaß mit bloßen Händen erschlägt. Als sie das Glücksgefühl der Masturbation für sich entdeckt, will sie ihre Technik gleich im Esszimmer mit der Hausdame teilen. Lanthimos lässt seine Figuren wieder einmal das tun und sagen, was man im „normalen“ Miteinander lieber unterlässt und verschweigt. Das funktioniert gerade im ersten Drittel des Films als sehr amüsante Verkehrung eines Sittengemäldes. 

„Poor Things“ will Kino sein, in dem man die gedankliche Sau rauslassen kann. Schräge Winkel hat Lanthimos dafür wieder gefunden. Das Spiel mit verschiedenen Linsen und entrückten Perspektiven hat er mittlerweile perfektioniert. Es ist sein ästhetisches Markenzeichen geworden. Mal werden ganze Räume an den Bildrändern verzerrt und gewölbt, mal sehen Szenen aus, als hätte man sie durch einen Türspion beobachtet. Voyeurismus stellt sich selbst aus. Lanthimos schafft damit gleichermaßen verschrobene wie teils beklemmende, erschreckende Bilder, die ihre Figuren in kadrierte Käfige sperren. Denn das ist der ernste Hintergrund, den Lanthimos Schritt für Schritt offenbart: Mit „Poor Things“ erscheint ein weiterer Film, der sich mit der Zurichtung von Frauen durch das Patriarchat auseinandersetzt.

Szene aus "Poor Things"
Foto: 20th Century Studios. All Rights Reserved

Bei den Filmfestspielen von Venedig ging es finster zu

Was sich gehört und sich nicht gehört, wie sich eine Frau zu verhalten hat, was als weiblich und männlich gilt – das wird an der verqueren maskulinen Norm gemessen und verurteilt. Die Erfahrung, die dabei von Generation zu Generation weitergegeben und verinnerlicht wird, zieht Lanthimos klug und mit äußerst makabren Einfällen an all den Körperexperimenten auf. Sein Film scheint im 19. Jahrhundert zu spielen, doch man weiß das nicht so genau. Er abstrahiert seine Welt, um etwas vorzuführen, verwandelt sie in ein surreales Märchen-Universum zwischen Gothic und Science Fiction. „Poor Things“ ist ein visuell überbordender, verspielter, ein erschlagend bombastischer Film! 

Andere würden in diesem Pomp schnell auseinanderfallen, doch nicht so bei Lanthimos. Seine kunstvoll zusammengebaute Oberflächlichkeit ist um einen tief humanistischen Kern gebaut. Über das Aufgesetzte, Überdrehte kommt er dem Menschlichen und seinen Idealen näher. In dem Moment, da es in entsetzlich verstelltem Gestus vorgeführt wird. Bei den Filmfestspielen von Venedig war „Poor Things“ zweifellos eine Ausnahmeerscheinung. Das Festival wird vor allem eines bleiben, das vom Zerfall emotionaler Bindungen und einer verschwimmenden Gegenwärtigkeit erzählte. Nicht zuletzt demonstriert anhand der vier großen Mörder-Filme: „Der Killer“ von David Fincher, der in Infrarot irrlichternde Gewaltexzess „Aggro Dr1ft“ von Harmony Korine, die Spiel-im-Spiel-Komödie „Hit Man“ von Richard Linklater sowie der Irland-Western „In the Land of Saints and Sinners“ mit Liam Neeson. 

Michael Fassbender als Der Killer am Fenster
Michael Fassbender im Netflix-Film „Der Killer“ Foto: Netflix/ Venice International Film Festival

„Poor Things“ zeigt das Aufbegehren gegen den männlichen Gott

„Die Killer sind los“, möchte man das Festival 2023 überschreiben. Wo besagte Werke den räuberisch empfundenen Urzustand der Spätmoderne reproduzieren und einen mit deren Kälte konfrontieren, zeigt Lanthimos seinem Publikum eine andere Sicht der Dinge. Seine Utopie entwirft er im parodistischen Verfahren, im Umkrempeln alles Gewohnten und Gewöhnlichen. Bei ihm müssen Menschen Monstren werden und sich als solche identifizieren lernen, um nicht tatsächlich wahnsinnig zu werden. 

Wenn sich also seine Protagonistin gegen den männlichen Gott aufzulehnen beginnt und in die Welt da draußen vordringen will, begibt sich Lanthimos’ Romanadaption auf Weltreise. Gemeinsam mit dem gelackten Schwerenöter Duncan Wedderburn zieht sie von Stadt zu Stadt. Als sie das Elend der Armen in Alexandria entdeckt, spendet sie kurzerhand alles Hab und Gut. Der Idiot und die Maschinenfrau landen auf der Straße. Doch Bella entdeckt die Prostitution als lukratives Geschäft. 

Die Unbeschwertheit und die Faszination daran, den eigenen Körper zu verkaufen, dient Lanthimos als vielleicht größte Provokation. Bella wird für ihre Freizügigkeit als Wahnsinnige, als Monster abgestempelt. Man bestraft sie für ihre Lust. Sie gilt als unrein. Taugt ihre Geschichte nun also zum feministischen Plädoyer für Sexpositivität und eine Befreiung männlicher Zuschreibungen? Man sollte sich da noch vorsichtig sein und man sollte ebenso skeptisch gegenüber der enormen, fast einhellig anmutenden Begeisterung bei den Filmfestspielen von Venedig sein. Yorgos Lanthimos ist ein herausragender Regisseur und „Poor Things“ ein herausragender, besonderer und sehenswerter Film.

Emma Stone in "Poor Things"
Emma Stone spielt eine künstliche Frau in „Poor Things“. Foto: 20th Century Studios. All Rights Reserved

Lanthimos ist bekömmlicher geworden

Den Applaus, den er jetzt erhält, hätte Lanthimos jedoch schon vor Jahren in dem Ausmaß erhalten müssen. Nur: Würde er heute einen Film wie „Dogtooth“ herausbringen, würde er eben nicht so einen Applaus wie für „Poor Things“ ernten. Das hat auch etwas damit zu tun, dass seine Werke etwas an Radikalität eingebüßt haben. Sie sind formal zwar immer noch exzentrisch und abgedreht, aber sie haben genau diese Exzentrik und Verschrobenheit inzwischen in eine sehr bekömmliche, niedrigschwellige Opulenz-Ästhetik verwandelt. Ihre Hürde wird Gewohnheit. Von der spröden, kühlen und distanzierten Erzählweise früherer Werke hat sich Lanthimos längst verabschiedet. Und so erstaunt es auch wenig, dass „Poor Things“ wiederholt mit Greta Gerwigs Kassenschlager „Barbie“ verglichen wird. 

Thematisch ähneln sich beide, wie sie vom Ausbruch aus patriarchaler Logik und Identitätsvorstellung erzählen. „Poor Things“ ist zwar der bessere, weil wesentlich wagemutigere, drastischere und polemischere Film. Hier darf es körperlich, sexuell, brutal werden. Eine erwachsene „Barbie“-Variation, lässt man sich auf diesen Vergleich ein. Zugleich verkaufen beide ein doch recht leicht verdauliches, vereinfachtes Bild von Feminismus, das mit leichten Signalen, Karikaturen und Codes arbeitet, um Freund und Feind trennen zu können.

Emma Stone im Wald in "Poor Things"
Foto: 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved.

Wie bissig ist die Kritik von „Poor Things“ wirklich?

„Poor Things“ ist zu einem gewissen Teil Selbstbestätigungskino! Ihm fehlt ein wenig das Widerspenstige, auch wie man sich zu seiner Protagonistin verhalten soll. Denn zur Wahrheit gehört auch: Je mehr ihr emanzipatorischer Prozess an Fahrt aufnimmt, desto mehr „normalisiert“ sich ihr Gebaren. Je stärker sie ihre Welt verstehen lernt, desto weniger fremd erscheint sie uns. Weil wir die Welt plötzlich durch ihre Augen sehen lernen, oder weil der Film dann doch an Konsequenz verliert, um nicht zum allzu großen Publikumsschreck zu werden? 

Die Maschine wird Mensch, sie befreit sich vom männlichen Gott, schafft ihre eigene Welt. Ihre Grenzüberschreitung darf zwar in einer wunderbar bösartigen Schlusspointe gipfeln, wird aber im Verlauf brav wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, um unsere Wahrnehmung und Ordnung nicht allzu sehr zu stören. Eine Kulturkritik, die von allen beklatscht werden kann, macht entweder etwas verdammt richtig. Oder aber sie zündet nur deshalb, weil sie sich gerade so mit dem begnügt, auf das sich alle einigen können, ohne irgendetwas für das eigene Handeln und Denken befürchten zu müssen. 

„Poor Things“ wird am 8. Februar 2023 in den deutschen Kinos starten. Bei den 80. Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewann der Film den Goldenen Löwen.

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